Digitalexperte: User Experience entscheidend für Erfolg

Software-Entwicklung in Autoindustrie

Digitalexperte: User Experience entscheidend für Erfolg
Bestimmte Rechnungen begleicht das MBUX-System von Mercedes bereits auf Knopfdruck. © Daimler

Chinesische Hersteller wie Nio, Aiways oder BYD drängen auf den deutschen Markt. Sie entwickeln sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten für Audi & Co – auch wegen der ausgereiften Software und der User Experience. Ein Gastbeitrag.

Von Henry Bauer*

Es war Mitte 2022. Da war es VW-Chef Herbert Diess, der auf einer Betriebsversammlung in Wolfsburg der nächsten Generation von Apples Konnektivitätsplattform Carplay eine Absage erteilte. Diess wollte VW nicht zu einem Blechbieger degradieren lassen. Damals schwor Diess die Belegschaft auf die eigene Software-Entwicklung durch die VW-Tochter Cariad ein.

Dass zukünftig nur Apple und Google mit Software und den damit einhergehenden Diensten Geld verdienen, wollte Diess nicht zulassen. Der VW-Chef wollte die Software-Kompetenz im eigenen Haus haben. Dass man aus einem Autobauer wie VW mit seinen Marken indes nicht über Nacht ein Softwareunternehmen machen kann, zeigen die nicht enden wollenden Probleme um Cariad. Sie führten bei der Modellentwicklung wie beispielsweise beim elektrischen Porsche Macan zu Verzögerungen. Doch Diess ist längst nicht mehr VW-Chef; auch die Probleme bei Cariad kosteten ihn den Job.

Software hat auch unter Blume hohe Priorität

Nachfolger Oliver Blume selbst hält nicht mehr an den Zielen seines Vorgängers von 60 Prozent Eigenentwicklung bei der Software fest. Aber auch für Blume genießt das Thema Software eine hohe Priorität. Er hält an der Vision fest, den Autobauer zu einem softwarebasierten Mobilitätsanbieter zu machen. In einem Interview mit der Börsen-Zeitung stellt Blume unlängst fest, dass man bei der Software-Entwicklung zu viel auf einmal gewollt hätte. „Wir haben die einzelnen Software-Generationen jetzt entflochten und in ein sinnvolles Zeitgerüst gesetzt, um sie den passenden Fahrzeugen zuzuordnen“, sagte Blume der Börsen-Zeitung.

Zugleich würde man die Kernkompetenzen bei der Software neu definieren. Dazu gehöre auch, mit welchem Partner man zusammenarbeiten könne. Ein zu ambitionierter Zeitplan wurde kurz vor dem Jahreswechsel auch von der IG Metall kritisiert.

Services stecken in Kinderschuhen

Wer in moderne Autos schaut, der sieht dort mittlerweile Digitalcockpits und -In-Vehicle-Infotainmant-Systeme, die mit Connected Services kommen. Doch noch stecken bei vielen Herstellern die Services in den Kinderschuhen. Gerade die deutschen Anbieter verlieren in China Marktanteile. Dort sind Hersteller wie Nio, die seit letztem Jahr auch in Deutschland zu haben sind, gerade in den digitalen Funktionen schon viel weiter als deutsche Hersteller. Hierbei geht es nicht nur darum, über bestimmte Funktionen zu verfügen, sondern darum, wie sie ins Fahrzeug eingebettet sind. Es geht darum, wie es sich anfühlt, die Funktion zu bedienen. So wie wir die Verarbeitung des Lenkrads mit den Händen fühlen können, ist bei Software die User Experience entscheidend.

VW bietet für alle Kunden eines ID Software-Updates Over-the-Air. Foto: VW

Warum ist die User Experience entscheidend? Lassen Sie mich ein Beispiel nennen – und mit Apple anfangen, also der Marke, die für viele Nutzerinnen und Nutzer für eine einfache und intuitive Bedienung steht. Für mich hat nicht Apple mit seinem ersten iPhone das beste Smartphone gebaut. Ich selbst hatte damals, es war im Jahr 2002, ein Siemens Loox mit einem GPRS-Modul. Berits mit ihm konnte ich Webseiten ansurfen, eMails schreiben etc. Doch als Apple 2007 das iPhone auf den Markt brachte, waren die Kundinnen und Kunden geradezu aus dem Häuschen.

Beim iPhone stimmte die User Experience

Doch warum war dem so? Für viele war das iPhone deswegen ein Gamechanger, weil die Eingabe nicht mehr über die Tastatur erfolgte, sondern mittels Finger über den Touchscreen. Bei mir war das anders: so etwas war bereits mit dem Loox möglich, wenn man den Finger etwas anschrägte. Für mich war das Besondere am iPhone die Benutzung der verfügbaren Applikationen: sie waren einfach, geradezu intuitiv. Die User Experience stimmte. Ich selbst blieb damals dennoch bei der Telekom und meinem Mobile Digital Assistance, MDA. Für ihn hatte ich kleine Applikationen, die mir das Leben erleichterten. Für mich war die Zeit des Wechsels dann mit der zweiten Generation, dem iPhone 3G, gekommen. Für dieses iPhone ließen sich eigene Apps schreiben und auf das Gerät spielen. Das war für mich der Tippingpoint.

Doch was hat das mit Autos und dessen Software zu tun? Eine Menge. Wenn die Software nicht nutzerfreundlich ist, verliert man seine Kunden – oder bekommt sie erst gar nicht. Ein Auto bauen kann jeder Hersteller. Doch auch hier gibt es Qualitätsunterschiede bei der Verarbeitungsqualität: Wie leise schließen die Türen, wie sind die Spaltmaße etc. Ähnlich ist es bei der Software.

Mindestens ebenbürtig mit Apple und Android

Henry Bauer ist Head of Automotive beim Software-Entwickler Endava. Foto: Privat

Ein anderes Beispiel: Ich bin gerade auf der Suche nach einem neuen Fernseher. Mein alter Sony mit Android TV ist in die Jahre gekommen. Doch mich interessiert nicht, ob es wieder ein Sony ist, sondern ich orientiere mich am Betriebssystem des TV-Gerätes. Erst dann schaue ich, welche Marke es anbietet. Dieses Beispiel zeigt, dass auch die Automobilhersteller aufpassen müssen, was sie ihren Kundinnen und Kunden anbieten. Wenn sie kein eigenes Betriebssystem für ihre Modelle haben, die nicht mindestens den Oberflächen von Apple oder Android ebenbürtig werden, werden die OEMs über kurz oder lang austauschbar – das ist das Schlimmste, was ihnen passieren kann.

Schaut man auf die deutschen Hersteller, dann ist Mercedes mit seiner Mercedes Benz User Experience (MBUX) am weitesten. Hinter MBUX verbirgt sich ein user-generiertes und lernfähiges Multimediasystem mit Apps, Sprachsteuerung, Augmented Reality und der Möglichkeit, Over-the-Air-Updates einzuspielen. Doch BMW wird 2023 aufschließen, aber nicht mit einem eigens entwickelten System wie bei Mercedes. BMW setzt auf Android Automotive. Ein von Google bereitgestelltes System, mit dessen Hilfe man auch in BMWs freigegebene Apps von Drittanbietern nutzen kann.

Auch Apple spielt seit einiger Zeit mit seinen CarPlay-Produkten eine Rolle. Laut einer Studie sagen bereits heute 4 von 5 Amerikanern, dass die Verfügbarkeit von CarPlay ein Entscheidungsfaktor im Autoverkauf ist. Das wird wahrscheinlich auch ein Grund sein, warum es auch von Tesla unterstützt wird. Eigentlich hatte das der US-Elektroautobauer nicht vor.

Ausreichend Entwickler für beide Plattformen

Der große Vorteil der beiden Smartphone-Plattformen ist, dass es bereits sehr viele Entwickler gibt, die für diese Plattformen entwickeln können. Ähnlich wie bei Apple TV oder Android-TV ist es für Entwickler relativ einfach, ihre existierenden Smartphone-Apps an die neue Umgebung anzupassen. Dies gibt den Smartphone – Plattformen einen ersten Vorteil. Den zweiten Vorteil haben sie über ihre Voice Assistenten. So versucht auch Amazon mit Alexa ins Fahrzeug zukommen. Nissan beispielsweise hat Alexa bereits im Ariya integriert.

Der Sprachsteuerung kommt bei den bisherigen Features auch eine herausgehobene Rolle zu: Solange Fahrzeuge nicht autonom fahren und die Nutzung des Smartphones während der Fahrt verboten bleibt, sind Sprachsteuerungen der beste Weg, komplexe Befehle ausführen zu lassen. Auch hier ist der chinesische Hersteller Nio mit seinem Sprachassistenten Nomi sehr fortschrittlich: er wirkt im Gegensatz zur Konkurrenz sehr menschlich und weniger technisch.

Meiste Funktionen kommen aus dem Backend

Doch was bedeutet das für die Hersteller? Dass die meisten neuen Fahrzeugfunktionen aus dem Backend kommen, also digitale Funktionen sein werden. Diese Funktionen müssen über Oberflächen (User Interface) den Fahrern bereitgestellt werden. Genau das ist es, worauf sich die Hersteller konzentrieren müssen, wenn sie mehr sein wollen als nur „Blechbieger“ und zu softwarenbasierten Mobilitätsanbietern werden wollen. Der Weg, den der einstige VW-Chef Herbert Diess vorgeben hat, war dabei ohne Frage der richtige, auch wenn der Start von Cariad nicht optimal gelaufen ist. Wer das digitale Interface beherrscht, beherrscht, welche „Connect Car Services“ genutzt werden und beherrscht auch die Bezahlflüsse dafür. Die Margen der OEMs sind in normalen Zeiten aufgrund des Technologiewechsels auf EVs unter Druck, deshalb müssen die OEMs in der Zukunft auch während der Nutzung des Fahrzeuges Umsätze generieren und dies wird nur gelingen, wenn es nahtlos ins Fahrzeug integriert ist. Doch wenn davor ein Gatekeeper wie Apple oder Google sitzt, verdienen diese immer mit, was in Deutschland viele Jobs gefährdet.

* Henry Bauer wird von heute an in regelmäßigen Abständen über die Neuerungen bei der Software in der Autoindustrie und über bestehende und kommende Anwendungen berichten. Dabei wird er vor allem auch deren User Experience im Blick haben.

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