E-Autos sind gerne groß und hoch. Von wegen. Beim Ioniq 6 setzt Hyundai auf die kompakte Limousine. Auch wegen der besseren Aerodynamik.
Man erinnert sich kaum noch: Vor gar nicht allzu langer Zeit war Hyundai irgendwas mit preiswert und fünf Jahren Garantie. Doch mittlerweile hat sich das Image grundlegend gewandelt. Beim Design ist den Koreanern der Wandel zu Höherem längst gelungen, auch in Sachen Sportlichkeit stehen sie weit oben – vor allem aber sind sie führend bei technologischer Vielfalt. Hybriden, E-Autos und Wasserstoff – das bietet außer Toyota nur der Konzern in Seoul. Schließlich lautet Hyundai übersetzt: modernes Zeitalter. Da verpflichtet allein schon der Name…
Zu alledem räumen die Koreaner auch noch mit dem Irrglauben auf, E-Autos müssten vorrangig Wuchtbrummer sein, denen man die Federbeine langegezogen hat. Stellen sie doch mit dem Ioniq 6 eine derart frisch-freche Karosse hin, dass einem die Augen übergehen. Bogig geduckt und messerscharf gezeichnet, ein extravaganter Mix aus Limousine und Coupé. So eine Nummer trauen sie sich ansonsten nur bei Mercedes. Was viel sagt über das neue Selbstbewusstsein bei Hyundai.
Überzeugende 800-Volt-Technik
Gerechtfertigt ist es allemal. Denn während die E-Autos dieser Welt noch mit 400-Volt-Technik unterwegs sind, haben die Koreaner längst verdoppelt. Das ist im Markt der Masse schon eine Ansage. Über 800 Volt verfügen sonst nur Porsche Taycan und Audi RS e-tron GT. Die aber sind locker zwei- bis viermal so teuer. Ein Argument, das zieht. Hinter Tesla und VW ist Hyundai in Deutschland mit 7,1 Prozent Marktanteil mittlerweile die drittstärkste E-Auto-Marke.
Selbstverständlich ist die Technik aufwändig, dafür sind die Kabel dünner, besser zu verlegen und bis zu 30 Kilo leichter. Und weil ihnen bei Hyundai auch Performance am Herzen liegt, haben sie sich für permanenterregte Synchronmaschinen entschieden. Natürlich hätte es preiswertere Alternativen gegeben – bei denen Strom das Feld erzeugt, die aber größer sind und heißer werden. Aber das wäre halt gekleckert gewesen…
Der Grund ist ein simpler: Längst wollen sie bei Hyundai mit ihren Autos ins Herz treffen. Und das schlägt bei E-Autos nun mal für große Reichweiten und mehr noch für kurze Ladezeiten. Wenn man in fünf Minuten Strom für mehr als 100 Kilometer in die Zellen pressen kann, schwindet die Bedeutung anderer Faktoren. Zugegeben: Nötig dafür ist eine ordentliche Schnellladesäule – aber dennoch gehen da selbst notorischen Nörglern langsam die Argumente aus.
Parallel zur Technik nähert sich Hyundai der E-Mobilität auch über das Design. So duckt sich der Ioniq 6 gegenüber Nummer 5 elf Zentimeter tiefer, zieht sich dafür aber achtern lang um gut 20 Zentimeter auf 4,85 Meter – und zum Glück auch wuchtig in die Breite. Ein echter Coupé-Coup.
Verkleideter Unterboden, variable Lüftungsklappen
Der Effekt: Die vorbeiwirbelnde Luft hat am langen Heck, dessen oberer Spoiler ein wenig an den 911 erinnert, einfach viel mehr Zeit, sich zu beruhigen. So bringt es der „Streamliner“ genannte Ioniq 6 dank verkleidetem Unterboden und variabler Lüftungsklappen auf einen cw-Wert von 0,21 und landet damit unmittelbar hinter dem Aerodynamik-Primus Mercedes EQS (0,20). Kollateralnutzen für Konservative: Statt Heckklappe wie beim Ioniq 5 gibt es echte Limousinen-Tradition: feste Scheibe samt klassischem Deckel über dem 401 Liter fassenden Kofferraum. Platz für das Ladekabel bietet ein „Frunk“ unter der Fronthaube.
Ein kleines Opfer indes fordert der gestalterische Mut. Bei 2,95 Metern Radstand sitzt man zwar trotz des kühnen Abschwungs auch in zweiter Reihe noch sehr ordentlich, ein bisschen Demut vor dem Design erfordert der Einstieg indes schon. Allerdings haben die Entwickler trotz des Spannungsbogens den Sinn fürs Praktische bewahrt. So folgt die Form der Funktion und mündet in eine akzeptabel tiefe Ladekante.
Zum Schwung im Dach gehört selbstverständlich auch der unter der Haube. Zur Wahl stehen Akkus von 53 und 77,4 kWh, Heck- und Allradantrieb – sowie in der Folge ein Spektrum zwischen 151 und 325 PS bei Reichweiten von 429 bis 614 Kilometern (WLTP). Tempo 100 liegen bei Allrad und großem Akku nach 5,1 Sekunden an, bei Heckantrieb mit kleiner Batterie vergehen aber auch bloß 8,8. Rauf geht’s hier wie dort bis Tempo 185.
Gewebe aus PET-Flaschen und Fischernetzen
Das Fahrwerk ist bestens austariert, ohne gleich den Komfort zu schmälern, die Lenkung indes könnt ein wenig mehr Rückmeldung vertragen. Wer’s kommod schätzt, der kleinen Hatz zwischendurch aber nicht abgeneigt ist, dem sei Heckantrieb samt großem Akku empfohlen. Dem fehlt zwar der harte Punch des Allradlers, allerdings kontert er im Geschlängel mit geringerem Gewicht und agilerem Handling. Wer allerdings allzu flott in enge Ecken strebt, muss trotz modernster Technik erfahren, dass Masse nun mal den Weg Richtung Tangente nimmt. Immerhin sind zwei Tonnen und mehr von den bis zu 20 Zoll großen Rädern in der Bahn zu halten.
Platz hat’s vorne reichlich. Man thront auf gut konturierten Sitzen und kann sich auf Wunsch – etwa bei der Ladepause – samt ausklappbarer Beinauflage gepflegt flachlegen. Apropos Sitze: Wen selbst bei ökologisch behandeltem Leder das Gewissen plagt – zur Wahl stehen auch Stoffe aus PET-Flaschen und für den Boden Recycling-Garne aus alten Fischernetzen.
Das Cockpit bilden zwei 12-Zoll-Displays im Breitwand-Format. Links die Instrumente, rechts das Infotainment. Ausladender war in dieser Klasse selten ein Kommandostand. Pfiffig: Wer zwischen den Fahrmodi Eco, Normal und Sport wechselt, kann die zugehörige Reichweite gleich groß mit der Tempo-Anzeige ablesen. Schade nur, dass man mit Ziffern leben muss – eine Zeiger-Grafik ist nicht programmiert.
Rückblickend betrachtet wird’s ein wenig eng. Die extrem geneigte Heckscheibe verengt die Welt zum Schlitz. Da weiß man, warum die Heckkamera Serie ist. Optional gibt’s Linsenblick auch für die Außenspiegel. Allerdings passen die in ihrer auffallend kantigen Form deutlich besser zum Ioniq 5 – und der ungewohnte Blick auf die Bildschirme am Fensterdreieck ist auch nicht jedermanns Sache.
Jede Menge Assistenzsysteme
Nicht mal mehr lenken und bremsen müsste man, weil Hyundais Jüngster auf Wunsch rundum Obacht gibt, automatisch in der Spur bleibt, das richtige Tempo hält, gebührend Abstand wahrt, vor Sekundenschlaf warnt und – wenn sonst nichts mehr hilft – den Anker wirft. Der Clou der Assistenz ist das optionale Head-up-Display, das schwirrende Pfeile vors Auge wirft. Für ein Auto dieser Klasse ist das großes Kino. Gut gelöst: Beim „i-Pedal-Driving“ verzögert der Wagen tatsächlich bis zum Stillstand. Wäre doch schade um jedes Watt, das nicht rekuperiert wird.
Eher ungewöhnlich für ein E-Auto: Achtern dürfen stolze 1,5 Tonnen an den Haken. Einzige Voraussetzung ist die große Batterie. Mit kleinem Akku bleibt’s bei 750 Kilo – auch gebremst. Selbstverständlich gilt Buch eins der Batterie-Bibel: Dynamik kostet Distanz. Und Gewicht eben auch. Doch damit man in Sachen Radius keine böse Überraschung erlebt, rechnet der Ioniq 6 auch bei Anhänger-Betrieb die Restreichweite hoch.
So oder so jedoch geht dem Akku irgendwann der Saft aus. An einer Gleichstrom-Säule lädt der Ioniq 6 mit bis zu 240 kW und kommt von 10 auf 80 Prozent in weniger als 20 Minuten. Anders gesagt: In einer Viertelstunde lässt sich Saft für 350 Kilometer ziehen. Sehr viel länger dauert ein Sprit-Stopp samt Kaffee auch nicht wirklich. An der Wallbox mit maximal 11 kW vergehen indes gute sieben Stunden. Hübsches Detail: Mit bis zu 3,6 kW lädt der Ioniq 6 elektrische Geräte – ideal für die Stromversorgung beim Camping oder bei einem Blackout. Eine Steckdose für außen findet sich in der Ladeklappe, eine für innen unterhalb der Rückbank.
Das alles gibt’s natürlich nicht zum Schnäppchenpreis. Das Basis-Modell mit kleiner Batterie und 111 kW (151 PS) starkem Heckantrieb startet bei 43.900 Euro. Für großen Stromspeicher und 168 kW (229 PS) muss man 54.000 Euro aufwärts anlegen, und für Allradantrieb samt 239 kW (325 PS) ruft Hyundai mindestens 61.100 Euro auf. Das ist dann zwar jede Menge Auto – aber eben auch verdammt viel Geld. Selbst nach Abzug der Förderung.
Womöglich lohnt aber auch ein klein wenig Geduld. Ein Shooting Brake ähnlich dem Konzernbruder Kia ProCeed ist zwar vorerst ein Gerücht – fürs Jahresende beschlossen indes ist bereits ein N-Modell – vermutlich mit der Ballermann-Technik des Kia EV6 GT. Quasi die Verschmelzung von Kraft und Form. Und noch mal einen guten Batzen teurer. Allerdings: Wer technisch gleichauf mit Porsche liegen will, darf nun mal keine Krämerseele sein.