Lotus Eletre R: Watt für ein Geschoss

Lotus Eletre R: Watt für ein Geschoss
Beeindruckende Fahrleistungen trotz 2,6 Tonnen Gewicht. © Lotus

Mit dem Eletre R zeigt Lotus, wo beim E-SUV der Hammer hängt. Einen nervösen Magen sollte man nicht haben – stattdessen ausreichend Geld.

Es ist nicht überliefert, ob nahe dem englischen Norwich in jüngerer Zeit seismische Auffälligkeiten beobachtet wurden. Immerhin liegt auf dem dortigen St Mary Churchyard seit 1982 Anthony Colin Bruce Chapman begraben, der geniale Konstrukteur und Begründer der Rennsportmarke Lotus. Und falls der stets auf Leichtbau und Purismus bedachte Brite erführe, dass quasi unter seinem Namen ein mehr als 2,6 Tonnen schweres SUV auf die Straße gebracht wird, scheint die eine oder andere unterirdische Rotation nicht ausgeschlossen.

Andererseits: An den beeindruckenden Fahrleistungen und der ausgefeilten Aerodynamik des elektrischen Lotus Eletre R hätte der große Tüftler Chapman dann womöglich doch seine Freude. Bestimmt hätte auch er gerne ein Allrad-Auto mit 675 kW (905 PS) gebaut, das in 2,95 Sekunden auf Tempo 100 beschleunigt, 265 Sachen fährt und fast 1000 Nm Drehmoment freisetzt. Man muss sich das vorstellen, als sitze man in einem Katapult – und hinten kappt jemand das Halteseil.

Zwei-Gang-Getriebe in der Hinterachse

Am Dach sitzen der besseren Aerodynamik wegen kleine Hörnchen. Foto: Lotus

Heutzutage reichen für derlei Grenzerfahrung ein ordentlicher Akku im Unterboden und zwei Elektromotoren. Der hintere verfügt sogar über ein Zwei-Gang-Getriebe. Kurzer erster Gang für maximale Beschleunigung, langer zweiter für Höchsttempo und Effizienz. Manchmal sind es kleine Dinge, die den großen Unterschied machen.

So wie die 800-Volt-Technik. Die ist aufwändig, dafür sind die Kabel dünner, besser zu verlegen und bis zu 30 Kilo leichter. Und weil Tradition verpflichtet, haben sie sich bei Lotus für permanenterregte Maschinen entschieden, in denen teure Magneten verbaut sind. Natürlich hätte es preiswerte Varianten gegeben – bei denen Strom das Feld erzeugt, und die mehr Platz brauchen und heißer werden. Aber das wäre halt gekleckert gewesen…

Bei Lotus aber wollten sie klotzen. Und so sind selbst die teuren Motoren keine normalen. Statt rundem Draht setzten die Ingenieure auf rechteckige Kupferstäbe in Haarnadel-Wicklung. Weil man so deutlich mehr Metall auf gleichem Raum unterbringt. Für höheres Drehmoment, bessere Kühlung, einfachere Isolation. Und selbstverständlich darf man fragen, ob ein solches Auto tatsächlich die Idee von Nachhaltigkeit des E-Antriebs verkörpert – mindestens aber lässt sich erfahren, was geht.

Ausgefeilte Aerodynamik

Mit 5,10 Metern Länge und drei Metern Radstand ist der Eletre ein wuchtiges Teil. Foto: Lotus

Fahrwerk, Allradantrieb und Lenkung sind in Echtzeit vernetzt mit Sensoren allüberall. Die Luftfederung dämpft über zwei Kammern pro Rad, die Hinterachse dreht mit, und eher lässt der Grip nach, als dass der Lotus nennenswert aus dem Lot gerät. Der Eletre R kommt daher bei jeder Art von Fahrmanöver sehr viel später an Grenzen als die allermeisten, die ihn bewegen. Allein das hätte Colin Chapman ganz gewiss gefallen. Und bestimmt auch, dass sich Menschen mit nervösem Magen einen Kickdown reiflich überlegen sollten.

Beruhigend in jedem Fall: Das elektronische Sperrdifferenzial leitet die Kraft automatisch an die Räder mit der besten Haftung. Und: Hinter den 23-Zöllern greifen gewaltige Bremszangen um belüftete Keramikscheiben im Format einer Familienpizza. Irgendwie muss man ja auch mal wieder runterkommen…

Bedeckt wird all die feine Technik von schicker Hülle. Mit schneidiger Front, dicken Backen, wuchtigem Heck. Und wie im Rennsport wird die Luft klug durch Haube und Kotflügel geführt und zwecks minimaler Verwirbelungen an den Rädern vorbei. Sogar das Dach trägt der besseren Aerodynamik wegen teufelsgleich Hörnchen – und bei hohem Tempo fährt unterhalb der Heckscheibe ein zusätzlicher Spoiler aus. Das alles sieht nicht bloß gut aus, es kaschiert auch ein wenig, dass da eben doch ein 5,10 Meter langes Gefährt mit drei Metern Radstand daherkommt.

Kollateralnutzen dieser Abmessungen ist der Innenraum. Man thront in Sitzen vom Typ Abrahams Schoß, umgeben von schickem Interieur, vor sich lediglich ein schmales Band mit den wichtigsten Informationen. Größer und bequemer wirft es das Head-up-Display vor Augen. Rundherum hat’s Umschäumtes und Gestepptes, und zum Glück finden sich unterhalb des Touchscreens auch noch ein paar Schalter.

Stolze 2,25 Tonnen Anhängelast

Informationen erscheinen im Head-up-Display, das eigentliche Cockpit ist nur ein schmales Band. Foto: Lotus

Leider nicht fürs Gebläse, dessen Luftführung man mühsam aufs Display malen muss und das einen trotz kleinster Stellung immer viel zu kalt, viel zu stark und viel zu direkt anströmt. Nur gut gemeint sind auch die elektronischen Rückspiegel, die zum Glück nicht serienmäßig sind. Das Kamerabild erscheint nämlich unterhalb der A-Säulen – man schaut aber aus purer Gewohnheit dahin, wo jahrzehntelang Spiegel saßen und damit Richtung Linse. Dass dies die Zukunft des Rückblicks sein soll, hätte Chapman bestimmt nicht gewollt.

Erfreulich geräumig hingegen ist der Platz in zweiter Reihe. Wer lieber Last als Leute transportiert – an Laderaum herrscht kein Mangel. Bei voller Bestuhlung stehen im Eletre R bis zu 688 Liter zur Verfügung, mit umgeklappten Rücksitzen gut 1,5 Kubikmeter. Zusätzlichen Platz bietet ein 46-Liter-Fach unter der Fronthaube. Und wenn das alles nicht reicht: Achtern dürfen beeindruckende 2,25 Tonnen an den Haken.  Das ist für ein E-Auto eine echte Ansage. Selbstverständlich gilt Buch eins der Batterie-Bibel, wonach nicht bloß Dynamik Distanz kostet, sondern Gewicht eben auch.

Nicht mal mehr lenken und bremsen müsste man, weil der Eletere R rundum Obacht gibt, automatisch in der Spur bleibt, das richtige Tempo hält, gebührend Abstand wahrt, in tote Winkel späht und – wenn sonst nichts mehr hilft – den Anker wirft. Um sich aber dauerhaft der Autonom-Assistenz zu ergeben, macht der Lotus einfach zu viel Spaß. Also hält man es besser mit dem Grundsatz: Hier fährt der Chef noch selbst.

Auch zwei zivilere Derivate im Angebot

Auch hinten hat’s im Lotus Eletre reichlich Raum. Foto: Lotus

Allerdings ist spätestens nach offiziellen 490 Kilometern (WLTP) sogar der mächtige 112-kWh-Akku leer. Doch auch dann haben sie es bei Lotus höchst eilig: Presst ein Supercharger 350 kW in die Zellen, vergehen von zehn auf 80 Prozent Kapazität gerade mal 20 Minuten, die volle Ladung an einer 22-kW-Wallbox dauert knappe sechs Stunden. Die meiste Energie indes holt der Eletre R aus Rekuperation. Die höchste der vier Stufen dürfte dabei durchaus noch spürbarer verzögern. Wäre doch schade um jedes Watt, das die Bremsen in Wärme verwandeln.

Eine schlechte Nachricht gibt es dann doch: Unter 151.000 Euro tut sich nix mit Eletre R. Zum Glück gibt auch zwei zivilere Derivate. Mit identischem Akku, aber nicht ganz so viel Wumms. Wobei „nur“ 450 kW (603 PS) und ein Spurt auf Landstraßen-Limit in 4,5 Sekunden Jammern auf höchstem Niveau bedeutet. Immerhin steigt so die Reichweite auf 600 Kilometer. Allerdings: Mit 96.000 und 121.000 Euro sind auch die beiden anderen Eletre keine wirklichen Schnäppchen.

Wer übrigens glaubt, Eletre haben irgendetwas mit Elektrizität zu tun, der irrt. Die Bezeichnung leitet sich aus dem Ungarischen ab und bedeutet in etwa: zu neuem Leben erwachen. Und am Ende ist tatsächlich nicht bloß die Marke wieder da, sondern auch viel von der einstigen Philosophie. Auch mit 20 Zentimeter Luft nach unten ist der Eletre ein Lotus – nur eben mit Strom und in einer anderen Zeit. Es dürfte also ruhig bleiben rund um St Mary.

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