Der Bentley Bentayga soll für die englische Edel-Marke nicht nur frische Kunden gewinnen, sondern auch neue Maßstäbe im Segment der Luxus-SUV setzen.
Von Axel F. Busse
Auf einen Zeitgenossen und Rivalen auf dem Circuit war Walter Owen Bentley zuweilen nicht gut zu sprechen: Ettore Bugatti hatte Bentleys Renner als „schnellste Lastwagen der Welt“ verspottet. Trotz ihrer massiven Bauweise fuhren die Briten aber oft vorneweg – überlegener Motorleistung und Haltbarkeit sei Dank. Durch den ersten Bentley, der einen 3500 Kg schweren Anhänger ziehen und laut Datenblatt mehr als 800 Kilogramm Zuladung aufnehmen darf, könnte sich der Seitenhieb Bugattis als Weissagung entpuppt haben und in Erfüllung gegangen sein: Mit 301 km/h Spitze ist der Bentayga der schnellste allradgetriebene Hochdach-Kombi weit und breit.
Und der Luxuriöseste. Nicht etwa, weil sein Innenraum mit edlen Furnieren und handschuhweichen Tierhäuten ausgekleidet ist. Das ist bei Bentley Standard. Auch nicht, weil er ein riesiges Panorama-Glasdach hat. Das ist beim Bentayga Standard. Aber gewiss deshalb, weil man für ihn eine Borduhr im Zentrum des Armaturenbretts installieren lassen kann, die mit dem kompliziertesten Detail ausgestattet ist, was es für mechanische Zeitmesser gibt. Einen sogenannten Tourbillon hat die Uhrmacherkunst erfunden, um den Einfluss der Schwerkraft auf die Ganggenauigkeit des Werks zu mindern. Hauslieferant Breitling könnte bei entsprechendem Auftragseingang vier Exemplare davon pro Jahr liefern, das Stück zu 150.000 Euro.
Den Umstieg schmackhaft gemacht
Für rund 25.000 Euro mehr bekommt man einen Bentayga. Der hat dann die Normuhr, ebenfalls von Breitling. Das durchschnittliche Kundenfahrzeug dürfte für 220.000 bis 240.000 Euro gehandelt werden, denn es gibt immer einen schickeren Sonderlack, ein besserer gemasertes Holz, ein feineres Leder, ein raffinierteres Assistenzsystem und fettere Alufelgen. Mit Sonderausstattung wird verdient, das ist im Luxus-Segment nicht anders als bei Mittelklasse-Kombis. Neu ist, dass die multiverstellbaren Einzel-Sessel, die für Fahrer und Beifahrer vorgesehen sind, eins zu eins auch für die Plätze drei und vier bestellbar sind.
Was die Bentley-Verantwortlichen aber am meisten freut: Keiner ihrer Kunden ist künftig mehr gezwungen, seinen Pferde- oder Bootsanhänger mit einem Range Rover zu ziehen, dem bislang üblichen Verkehrsmittel der einkommens- oder einflussstarken Zeitgenossen mit kostspieligen Hobbys. Bisherigen Range-Rover-Fahrern wird der Umstieg dadurch schmackhaft gemacht, dass die Regelung der Fahrmodi und die Anpassung an unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten beim Bentley ebenfalls per Drehknopf an der Mittelkonsole funktionieren.
Bentley Bentayga mit optischer Zurückhaltung
Im Unterschied zu dem gigantisch anmutenden Konzept-Fahrzeug #EXP 9, das Bentley 2012 in Genf enthüllte, übt der Bentayga eher optische Zurückhaltung. Da die Märkte Russland und China inzwischen eher im Leerlauf als mit Vollgas unterwegs sind, erscheint es als weitsichtige Entscheidung, auf die dort geliebte robuste Show zu verzichten. Die Bentayga-Länge von 5,14 Metern überragt den Range Rover zwar um 14 Zentimeter, doch die Länge wird so geschickt kaschiert, dass der zehn Zentimeter flachere Aufbau dem Bentayga eine drahtige und schlanke Gesamtoptik beschert.
Knapp drei Meter Radstand weisen ihm in dieser Disziplin den zweiten Rang hinter dem englischen Konkurrenten zu. Waren der sehr selbstbewusst und aufrecht stehende Grill der Studie und die vertikal angeordneten Scheinwerfer noch erkennbar von Modell Mulsanne inspiriert, fand laut Bentley-Chef Wolfgang Dürheimer im Zuge der Entwicklung eine „continentalisierung“ statt, die das SUV stylistisch näher an das sehr erfolgreiche Coupé rückte. Die Fenstergrafik hat an der D-Säule einen „Hofmeister-Knick“ bekommen, am Concept-Car liefen die Chromeinfassungen dort spitz zusammen.
Diesel und Hybrid in Vorbereitung
Der modulare Längsbaukasten des Volkswagen-Konzerns hat seinen Teil dazu beigetragen, dass der Trumm vom Lac Leman entschlackt und technische Nähe zu Konzern-Modellen wie Audi Q7 und Porsche Cayenne aufgebaut wurde. Wie sie wird auch der Bentayga mit einem Dieselmotor ausgerüstet. Damit betritt Bentley voraussichtlich 2017 ebenfalls Neuland, wobei die neueste Variante des 4,2-Liter-Konzernmotors im Gespräch ist. Im Gegensatz zum Ingolstädter SUV wird aber die für wahrscheinlich 2018 erscheinende Plug-In-Hybrid-Version des Bentaygas einen V6-Benziner als Verbrennungsmotor bekommen, anstelle des Diesels, wie ihn der Audi benutzt. Bis es soweit ist, wird ausschließlich Zwölfzylinder gefahren, konkurrenzlose 608 PS bietet das Aggregat dafür auf.
Die Bentley-Heimat im mittelenglischen Crewe ist inzwischen das Kompetenz-Zentrum des VW-Konzerns für den W12-Motor. Dafür und für die Produktionslinie des Bentaygas sind inzwischen rund 840 Millionen britische Pfund in den Standort investiert worden. Von zwei Turboladern zwangsbeatmet kann er ein maximales Drehmoment von 900 Newtonmetern mobilisieren. Diese Durchzugskraft gibt für Projektleiter Peter Guest die Rechtfertigung, auf die sonst zum Nachweis der Geländetauglichkeit eines 4x4-Mobils übliche Getriebe-Untersetzung zu verzichten.
Souverän auch im Gelände
Seidig schnurren die Kolben durch die Halbliter-Brennräume, wenn der Gasfuß Zurückhaltung übt. Die akustische Abschottung des Luxus-Kosmos diesseits der Türen von den Zumutungen der Außenwelt gelingt nahezu perfekt. Das Abrollgeräusch von 22-Zoll-Reifen ist nicht wegzufiltern, schließlich sind sie die einzige Kontaktstelle der Insassen mit der sie umgebenden Realität. Spontan und willig befördern die 48 Einspritzdüsen bei Anforderung Gemisch in die Zylinder, die Achtgang-Automatik hat unterdessen zwei oder drei Stufen zurück geschaltet, der 2,4-Tonner schießt mit einer Energie vorwärts, dass es eine wahre Pracht ist.
Den Sprint aus dem Stand auf einhundert Stundenkilometer erledigt er nicht langsamer als der neue Porsche 911. Einzig der von Motor und Abgassystem erzeugte helle und hohe Klang will nicht recht zu dem souveränen Auftritt passen. Tiefer, voller und sonorer sollte das Organ solch eines Schwerathleten sein, die souveräne Performance verlangt ein akustisches Pendant. Nur im Sport-Modus entwickelt der Auspuff eine bassigere Stimmlage. Zur Fahrdynamik-Regelung ist erstmals in einem SUV eine auf 48 Volt basierte Stabilitätskontrolle im Einsatz, die laut Entwicklungschef Rolf Frech „viel schneller reagiert als ein hydraulisches System“.
Bentley Bentayga mit bis zu 300 Millimeter Bodenfreiheit
Die serienmäßige Luftfederung kann die Karosse bis fast 300 Millimeter über Grund aufpumpen, was Sicherheit im Gelände verleiht, selbst die relativ großen Karosserieüberhänge fallen da nicht mehr störend ins Gewicht, wie die Testfahrt eindrucksvoll bewies. Neigungswinkel von mehr als 25 Grad in jede Richtung könnten höchstens für die Insassen zum Problem werden, der Bentayga wühlt sich zuverlässig aus manch misslich erscheinender Lage heraus.
Die Gewichtsverteilung von 56:44 zwischen Vorder- und Hinterachse erlaubt ein ausgewogenes und neutrales Fahrverhalten. Dass vom Head-Up-Display bis zur Einpark-Automatik, von der Kameraüberwachung des Umfeldes bis zum WLAN-Hotspot alle aktuellen Sicherheits-, Assistenz- und Komfort-Features (teilweise gegen Aufpreis) verfügbar sind, darf als selbstverständlich angesehen werden. „Luxus“, so fasst es Wolfgang Dürheimer zusammen, „muss nicht aufhören, wenn die Straße es tut“. Er ist – Ironie der Geschichte – heute gleichzeitig Bugatti-Chef.