Wer hätte das gedacht: ein Pagodendach verhalf vor sechs Jahrzehnten dem Mercedes 230 SL zu anhaltenden Ruhm.
Es war die Zeit, als Träume in den Himmel wuchsen. Vor 60 Jahren kam das Weltraumrennen zum Mond in volle Fahrt, europäische Städte planten die ersten Wolkenkratzer und ein bis dahin beispielloser Premierenreigen schöner Sportwagen kulminierte in einem konkaven Pagodendach: Es sichert dem Mercedes-Benz 230 SL (W 113) bis heute andauernden Ruhm.
Einen neuen fernöstlichen „Style Pagode“ propagierte die französische Zeitung L’Equipe Anfang 1963 anlässlich der Weltpremiere des Roadsters Mercedes 230 SL mit perfekt proportioniertem Hardtop auf dem Genfer Automobilsalon. Tatsächlich erinnerte das maßgeblich vom jungen französischen Nachwuchsdesigner Paul Bracq entworfene Coupédach nicht nur an die geschwungenen Dächer asiatischer Tempelbauten, die Formgebung sorgte auch für eine höhere Stabilität bei gleichzeitig geringem Gewicht des abnehmbaren Hardtops.
Star der Neuheiten-Show in Genf
Vor allem aber avancierte der federführend von Mercedes-Designer Friedrich Geiger gezeichnete Roadster so zum Star der PS-starken Neuheiten-Show in den Genfer Messehallen. Nicht Jaguar, Aston Martin oder die vier sportlichen Premieren auf dem Pininfarina-Stand wurden dort am meisten bewundert, der revolutionäre Roadster 230 SL mit lichtem Dachpavillon, kräftigem Reihen-Sechszylinder und Racing-Talenten trotz Oberklasse-Komfort zog die Besucher in seinen Bann.
Diese Gene genügten für eine bis 1971 währende Erfolgsstory, in der Mercedes fast 49.000 Einheiten vom 230 SL und seinen Ausbaustufen 250 SL und 280 SL absetzte.
SL Roadster soll Emotionen neu aufladen
Heute ist es der Mercedes-AMG SL Roadster, der die 70-jährige Geschichte der sportlichen Baureihe mit dem traditionellen Typenkürzel SL für „Super-Leicht“ als asketischer Athlet neu aufladen soll. Keine leichte Mission, doch die Erwartungen an die ab 1958 entwickelte „Pagode“ (W 113) waren damals nicht weniger groß.
Schließlich löste der 230 SL gleich zwei adrenalinhaltige Legenden der frühen Wirtschaftswunderjahre ab, den Hochleistungssportler 300 SL Roadster (W 198) und den eleganten Boulevardcruiser 190 SL (W 121 B II). Dazu nutzte die Pagode technische Lösungen der Oberklasse-Limousine Mercedes 220 SE (W 111), insbesondere deren (verkürzte) Rahmenbodenanlage, aber auch das Triebwerk. Denn der Motor des 220 SE bildete die Basis für die Weiterentwicklung zum 110 kW/150 PS starken 2,3-Liter-Reihensechszylinder, mit dem der 1.295 Kilogramm leichte 230 SL in den damals noch kleinen Club der 200-km/h-Sportler einzog. Erstmals gab es bei einem SL optional eine Viergang-Automatik, mit der die Karriere der Pagode speziell in Nordamerika beflügelt wurde, dorthin gingen 40 Prozent der Produktion.
Sicherheit genoss hohe Priorität
Das Thema Sicherheit wurde bei der Entwicklung der Baureihe W 113 großgeschrieben und schon in frühen Pressemitteilungen herausgestellt. So die „Vollsicht“ dank schlanker Dach- und Fensterpfosten des Pagoden-Hardtops als „neuer Beitrag auf dem Konto eingebaute Verkehrssicherheit“.
Oder „die Zweikreisbremse mit Scheibenbremsen an der Vorderachse“, die 1966 mit Einführung des 250 SL um hintere Scheibenbremsen ergänzt wurde. Nicht zu vergessen die neuartige Sicherheitslenksäule mit Pralltopf. Aber den Meilenstein „Erster Sportwagen der Welt mit Sicherheitskarosserie“ nach dem Patent des Ingenieurs Béla Barényi zelebrierte Mercedes in Pressemitteilungen erst ausgiebig, als der 230 SL bereits Oldtimerstatus besaß.
Tatsächlich waren die Pagodendach-SL noch für weitere Pionierleistungen gut, die erst nachträglich kommuniziert wurden. So absolvierte ein SL-Versuchsfahrzeug im Jahr 1968 über 69.000 Kilometer auf öffentlichen Straßen mit einem 203 PS starken Drei-Scheiben-Kreiskolbenmotor – als Wegbereiter für den futuristischen Flügeltüren-Sportwagen Mercedes C 111. Die 1971 folgende SL-Baureihe R 107 wurde sogar von Anfang an auf den Einsatz von Drei- oder Vier-Scheiben-Kreiskolbenmotoren vorbereitet.
Unterwegs mit V8-Motor
Dass die Serienfertigung dennoch abgesagt wurde, lag an den zu hohen Verbrauchs- und Abgaswerten der Kreisläufer. Stattdessen gab es den R 107 als ersten SL mit V8-Motor, zumindest in Serie. Denn den Weg zum V8 hatte ebenfalls die Pagode gebahnt. Ende 1967 verblüffte ein Pagoden-SL mit 6,3-Liter-V8-Motor aus dem staatstragenden Mercedes 600 Pullman bei Nürburgringtests mit formidablen Rundzeiten von 10 Minuten 40 Sekunden. Dennoch scheute der Daimler-Benz-Vorstand die Kosten für eine Serienentwicklung der V8-Pagode, denn die Entwicklung des Nachfolgers R 107 lief schon auf Hochtouren.
Aber auch mit Reihen-Sechszylinder qualifizierte sich die Pagode als schneller Racer. So erzielte Mercedes-Benz-Chefentwickler Rudolf Uhlenhaut schon 1963 mit einem 230 SL auf der Rennstrecke von Annemasse-Vétraz-Monthoux eine Rundenzeit, die nur 0,2 Sekunden hinter dem Zwölfzylinder-Ferrari 250 GT des Grand-Prix-Piloten Mike Parkes lag. Und bei der legendären Langstrecken-Rallye Spa-Sofia-Lüttich sicherte sich der 230 SL im gleichen Jahr unter Eugen Böhringer sogar den Gesamtsieg.
Karriere als Klassiker
„Der Mercedes-Benz 230 SL entwickelte sich rasch zu einem internationalen Favoriten“, resümierte eine Werbeanzeige wenige Jahre später, und tatsächlich fuhr der Roadster mit Stern auch in den Verkaufszahlen ganz vorn. Der Mix aus ikonischem Design, Komfort und temperamentvollen Motoren zog, zudem war die Pagode mit 21.700 Mark sogar etwas preiswerter als der Porsche 911 (anfangs 901 genannt) eingepreist. Kurz nach Serienanlauf feierte der 230 SL sein offizielles Deutschland-Debüt auf der IAA 1963, parallel zum Porsche, den das Mercedes-Marketing als wichtigen Wettbewerber ausgemacht hatte. Andere Konkurrenten wie Alfa 2600 Spider, Lancia Flaminia Cabrio oder auch BMW 3200 CS waren teurer, weniger gefragt und sind heute nur noch Insidern bekannt.
Der Mercedes W 113 dagegen macht sogar noch als Klassiker Karriere als begehrtes stilistisches Kunstwerk, das es übrigens in drei Ausführungen gab: Als Roadster mit Stoffdach, mit Verdeck und Hardtop und als sogenannte California-Version mit Hardtop ohne Verdeck. Optisch blieb die W-113-Reihe während ihrer achtjährigen Bauzeit fast unverändert, nur antriebstechnisch kam es zu zwei Evolutionen: 1966 löste der 250 SL mit nominell gleich starkem 2,5-Liter-Sechszylinder den 230 SL ab, und 1968 läutete der 280 SL mit 170 PS starkem Reihensechszylinder die letzte Runde ein.
Bei Filmstars beliebt
Wie fast alle Sportwagen der 1960er wurde die Pagode meist von Männern gekauft. Gefahren und geliebt wurde sie aber ebenso von Frauen. Das betonten zeitgenössische Testberichte, die den Typen 230 SL bis 280 SL attestierten, „Traum aller Frauen“ zu sein. Und die bunten Blätter berichteten, welche Reichen, Schönen und Schnellen der Faszination der Pagode erlagen.
Ob Filmstars wie Sophia Loren, Doris Day, Peter Ustinov, Cary Grant und John Travolta, Popstars wie Tina Turner und John Lennon, Politikerinnen wie Annemarie Renger, die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestags, oder Rennfahrer wie Stirling Moss und David Coulthard: Sie alle zeigten sich gerne auf der Sonnenseite des Lebens am Lenkrad dieses grazilen Roadsters mit Kult-Dach.
Die Spezialisten von Classic Analytics urteilen: „Der Pagoden-SL gehört aufgrund seiner Optik, Alltagstauglichkeit und Zuverlässigkeit zu den beliebtesten deutschen Oldtimern überhaupt. Unter 100.000 Euro tut sich für einen 280SL in wirklich gutem Zustand wenig. Für ein bis zur letzten Unterlegscheibe frisch restauriertes Exemplar muss man bei einem High-End-Restaurator mindestens das Doppelte hinlegen.“ (SP-X)