Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird die deutsche Klimapolitik nachhaltig verändern. So stellte der Erste Senat einstimmig fest, dass die Politik mehr zur Erreichung der Klimaziele tun muss.
In der bereits am 24. März ergangenen Entscheidung, die jedoch erst am gestrigen Donnerstag veröffentlicht wurde, stellten die Karlsruher Richter im Kern fest, dass das deutsche Klimaschutzgesetz vom 12. Dezember 2019 zu den nationalen Klimaschutzzielen mit den Grundrechten unvereinbar ist. Entsprechend muss das Klimaschutzgesetz nachgebessert werden. Die Minderung der schädlichen Treibhausgasemissionen dürfen nicht zu Lasten der jungen Generation gehen.
Die Juristin Roda Verheyen, die Klägerinnen und Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht vertrat, bezeichnete das Urteil als einen Paukenschlag. In einer Auswertung des Urteils mit ihrem Kollegen Ulrich Wollenteit wertete sie die Entscheidung als bahnbrechend. „Sie geht den Weg weiter, den niederländische, französische und irische Gerichte und auch das Verwaltungsgericht Berlin sowie internationale Menschenrechtsgremien über Jahre geebnet haben“, stellen die beiden Juristen fest.
Gesetzgeber muss Reduktionsplan vorlegen
In der Folge dieser Entscheidung sei der Gesetzgeber nun in der Pflicht, einen schlüssigen Reduktionspfad vorzulegen, „der Treibhausgasneutralität schnell und nicht auf Kosten der jungen Generation erreicht“. Wie Verheyen und Wollenteil in der Auswertung des Urteils schreiben, müssten jetzt die Klimaschutzziele für 2030 deutlich nachgeschärft werden. „Die jetzige Bundesregierung sollte schnell Vorschläge machen. Ein Abwarten auf das Umsetzungspaket der EU zum Green Deal reicht nicht aus.“
Die beiden Anwälte aus der Hamburger Kanzlei Günther erwarten, dass die Entscheidung der Karlsruher Richter auch Auswirkungen auf die Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben wird. Hier sind derzeit mehre Klimaklagen gegen Deutschland anhängig. Das Urteil wird nach Auffassung beider Juristen zukünftig „für umweltrechtliche Verfahren aller Art“ eine „erhebliche Bedeutung haben“. Der Artikel 20a des Grundgesetzes „mit seiner Staatszielbestimmung, die natürliche Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen zu schützen, hat Zähne bekommen“.
Grundgesetz generationengerecht ausgelegt
«Es ist ein unfassbar großer Tag für viele», sagte Luisa Neubauer von Fridays for Future, die in Karlsruhe zu den Klägerinnen gehörte. Die Bewegung sei «belächelt» und «ausgelacht» worden. Nach dem Urteil steht indes fest, dass Klimaschutz auch eine Frage der Generationengerechtigkeit ist. Das Gericht stellt fest, dass die «zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden» durch die Bestimmungen des Klimaschutzgesetzes in ihren Freiheitsrechten verletzt seien. «Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030.»
Wie Verheyen und Wollenteit festhalten, habe der Senat das Grundgesetz generationengerecht ausgelegt. So sei Klimaschutz Menschrecht und zugleich „justiziabel, heute und in der Zukunft“. Der Gesetzgeber sei gehalten, sich an den Vorgaben der Wissenschaft zu orientieren. „Heutige Generationen greifen in die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen ein, indem sie sich bis 2030 zuviele Treibhausgasemissionen zugestehen. „Das Klimaschutzgesetz hat Reduktionslasten in unzulässiger Weise auf die Zukunft und die dann Verantwortlichen verschoben“, so die Anwälte.
Streit in Koalition
Nach der Bekanntgabe des Urteils zeigte sich die Uneinigkeit in der Koalition. So warf Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) eine Blockadehaltung vor. «Immer blinken für große Klimaziele, aber niemals real handeln, sondern immer ganz hart auf der Bremse stehen» – dieses Politikprinzip sei jetzt gescheitert. «Jetzt muss wirklich gehandelt werden – und ich bin bereit das zu tun», kündigte der SPD-Kanzlerkandidat an. Doch auch Altmaier forderte mehr Tempo beim Klimaschutz. Der Weg zur bis 2050 angestrebten Klimaneutralität müsse nun unumkehrbar gemacht werden, sagte er und erinnerte an seine Vorschläge vom vergangenen September.
Damals hatte er angeregt, dass Bundestag und Bundesrat eine Charta beschließen, die bis zur angestrebten Klimaneutralität 2050 jährliche Treibhausgas-Minderungsziele festlegt.
Grünen-Chefin Annalena Baerbock sprach von einer historischen Entscheidung. «Wir haben als politisch Verantwortliche die Aufgabe, nicht nur in kurzfristigen Zyklen zu denken, sondern Grundrechte langfristig zu garantieren», betonte sie. Bis Mitte dieses Jahrzehnts müssten jährlich doppelt so viel Erneuerbare Energien ausgebaut werden wie jetzt, Deutschland müsse schneller aus der Kohle aussteigen und ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos zulassen. Die Grünen-Fraktion will, dass das Thema in der kommenden Woche im Bundestag diskutiert wird.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) und Scholz kündigten an, im Sommer Eckpunkte für ein weiterentwickeltes Klimaschutzgesetz vorzulegen. Auch Altmaier will Vorschläge machen, wie es nun weitergehen soll. Nach dem Urteil aus Karlsruhe ist jedoch eines klar. Die Politik hat zu handeln. Dazu wurde dem Gesetzgeber vom Gericht eine Frist bis Ende 2022 gesetzt. (mit dpa)