«Es gibt zu Preiserhöhungen keine Alternative»

ZF-Vorstandschef Wolf-Henning Scheider

«Es gibt zu Preiserhöhungen keine Alternative»
Wolf-Henning Scheider ist Chef von ZF. © Albert Kunzer/ZF

Die hohen Energiepreise belasten auch den Technologiekonzern ZF. Im Interview spricht ZF-Chef Wolf-Henning Scheider über mögliche Energieengpässe, Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken und den Weg in die Klimaneutralität.

Der Friedrichshafener Zulieferer ZF schließt mögliche Energieengpässe in den kommenden Monaten nicht aus. «Ja, wir stellen uns darauf ein und bereiten uns vor. Es ist natürlich der Blick in die Glaskugel. Genaues kann man nicht vorhersagen. Deswegen ist es umso wichtiger, in Szenarien zu denken», sagte ZF-Vorstandschef Wolf-Henning-Scheider im Interview mit der Autogazette und dem Magazin electrified.

«Wir bereiten alle Standorte darauf vor, Energie in einem zweistelligen Prozentbereich zu sparen und Abschaltungen in Notfallplänen vorauszusehen, damit wir maximal unsere Produktion aufrechterhalten können. Wir stellen uns auf alle Eventualitäten ein», fügte der Manager hinzu.

Energieverbrauch um 20 Prozent senken

Wie Scheider sagte, nehme ZF sich vor, seinen Energieverbrauch kurzfristig um 20 Prozent zu reduzieren. «Das ist in einer kurzzeitigen Perspektive auch möglich, um durch den Winter zu kommen. Da gibt es diverse Maßnahmen wie die Energiereduktion durch Absenkung der Temperatur.»

Dass die Bundesregierung plant, nur zwei von drei Atomkraftwerken als Notfallreserve am Netz zu halten, trifft bei Scheider auf Unverständnis. «Wenn man in so einer schwierigen Lage ist, kann ich nicht nachvollziehen, warum wir nicht drei Kraftwerke einige Monate voll am Netz halten sollten, damit wir durch den Winter kommen und dann mit besserer Planbarkeit unsere Energiepolitik wieder auf solidere Füße stellen. Für mich ist die Diskussion etwas überraschend», sagte der ZF-Chef.

«Wir stellen uns auf alle Eventualitäten ein»

Autogazette: Herr Scheider, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat vor Energieengpässen in Deutschland gewarnt. Haben Sie auch diese Befürchtung, obwohl zwei Atomkraftwerke bis April als Notfallreserve laufen sollen?

Wolf-Henning Scheider: Ja, wir stellen uns darauf ein und bereiten uns vor. Es ist natürlich der Blick in die Glaskugel. Genaues kann man nicht vorhersagen. Deswegen ist es umso wichtiger, in Szenarien zu denken. Wir bereiten alle Standorte darauf vor, Energie in einem zweistelligen Prozentbereich zu sparen und Abschaltungen in Notfallplänen vorauszusehen, damit wir maximal unsere Produktion aufrechterhalten können. Wir stellen uns auf alle Eventualitäten ein.

Autogazette: Was bedeutet zweistelliges Einsparpotenzial genau?

Scheider: Wir nehmen uns kurzfristig vor, dass wir über 20 Prozent Energie reduzieren. Das ist in einer kurzzeitigen Perspektive auch möglich, um durch den Winter zu kommen. Da gibt es diverse Maßnahmen wie die Energiereduktion durch Absenkung der Temperatur.

«Für mich ist die Diskussion etwas überraschend»

Autogazette: Im Zuge des Atomausstiegs hätten eigentlich alle drei Atomkraftwerke den Betrieb Ende des Jahres einstellen sollen. Nun laufen mindestens zwei Kraftwerke bis April als Notfallreserve. FDP und Union drängen auf einen Weiterbetrieb aller drei Kraftwerke. Sind Sie auch dieser Überzeugung?

Scheider: Ich erinnere mich, dass ich im Studium war, als die „Atomkraft? Nein danke!“-Aufkleber auf den Autos waren. Das ist schon einige Jahrzehnte her. Wenn man in so einer schwierigen Lage ist, kann ich nicht nachvollziehen, warum wir nicht drei Kraftwerke einige Monate voll am Netz halten sollten, damit wir durch den Winter kommen und dann mit besserer Planbarkeit unsere Energiepolitik wieder auf solidere Füße stellen. Für mich ist die Diskussion etwas überraschend. Andere Länder haben die Entscheidung längst getroffen.

Autogazette: ZF will bereits 2030 seinen Stromverbrauch aus erneuerbaren Energien bestreiten. Hilft Ihnen die frühzeitige Festlegung, bis 2040 zur Klimaneutralität zu kommen, schon heute, besser durch die Energiekrise zu kommen?

Scheider: Die aktuelle Situation ist eine Herausforderung. Die langfristigen Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, helfen zum jetzigen Zeitpunkt nur gering. Wir wollen bis 2025 40 Prozent unseres Energiebedarfs und unserer gesamten CO2-Emissionen reduziert haben. Bis 2030 wollen wir die Emissionen im Scope 1 und 2, also das, was wir selber unmittelbar als Unternehmen verursachen, um 80 Prozent reduzieren. Bis 2040 wollen wir einschließlich dem Scope 3, also samt den Produkten in ihrer Nutzungsphase, auf null kommen.

«Richtig beziffern kann man das nicht»

Autogazette: Kann man sagen, welche Mehrkosten durch die gestiegenen Strom- und Gaspreise auf ZF zukommen?

Scheider: Richtig beziffern kann man das nicht, weil wir gerade in den letzten Tagen massive Ausschläge bis zu 1000 Euro für die Megawattstunde gesehen haben – und wir kommen von 36 Euro im letzten Jahr. Diese extremen Ausschläge werden uns noch eine ganze Zeit begleiten. Insofern kann man schwer prognostizieren, wie die Energiepreise im nächsten Jahr aussehen. Aber Fakt ist: sie werden uns massiv belasten und werden ein großer Teil der Inflation sein, mit der wir gerade grundsätzlich zu kämpfen haben.

Autogazette: Kleine und mittelgroße Unternehmen sind durch die Energiekrise in ihrer Existenz gefährdet. Reicht das Entlastungspaket aus, sie zu schützen?

Scheider: Das ist schwer abschätzbar. Es ist erst einmal positiv zu kommentieren, dass die Regierung hier sehr aktiv, sehr kurzfristig Maßnahmen einleitet, um diese unvorhergesehenen Spitzen zu mildern, die sonst Unternehmen aus dem Markt nehmen könnten. Zumal an mancher Stelle die Marktmechanismen gerade nicht funktionieren können. Insofern begrüßen wir das.

Autogazette: Wie gehen Sie mit den Mehrkosten für Energie um? Geben Sie diese 1:1 an Ihre Kunden weiter?

Scheider: Es gibt zu Preiserhöhungen keine Alternative.

«Kämpfen mit einem Bündel von Inflationsfaktoren»

ZF-Chef Wolf-Henning Scheider will ohne Zertifikate zur Klimaneutralität kommen. Foto: Albert Kunzer/ZF

Autogazette: Auf dem Arbeitgebertag in Berlin hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Unternehmen dazu ermutigt, ihren Beschäftigten aufgrund der hohen Energiekosten Sonderzahlungen zu leisten. Machen Sie sich darüber Gedanken?

Scheider: Wir haben momentan eine enorme Belastung aus verschiedenen Bereichen. Es ging los mit Rohstoffen, dann kam die Logistik dazu mit horrenden Mehrkosten und über Energie haben wir bereits gesprochen. Wir werden aufgrund der Inflation mit erhöhten Lohnforderungen konfrontiert, die wahrscheinlich zu höheren Abschlüssen führen werden. Insofern kämpfen wir mit einem Bündel an Inflationsfaktoren und man muss sehen, wo die Belastungsgrenze ist. Auch für ein großes Unternehmen wie ZF ist das nicht einfach endlos auszuweiten, zumal wir schon Preiserhöhungen in durchaus signifikanter Form bei einigen Fahrzeugen sehen. Unsere Kunden reagieren, müssen reagieren. Wir kommen in einen Dominoeffekt, dass irgendwann der Verbraucher sagt, die Produkte werden ihm zu teuer. Das kann sich auf die Volkswirtschaft auswirken und uns in die Rezession führen. Wir dürfen die Schraube nicht überdrehen, sondern müssen mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl in den nächsten Monaten vorangehen.

«Sind auch bei ZF Teil des Exportweltmeisters Deutschland»

Autogazette: Das Ifo-Institut geht für 2022 nur noch von einem Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent aus und senkt die Prognose für 2023 deutlich. Stehen wir vor einer Rezession?

Scheider: Es ist immer die Frage, wie lange man in einen Rückgang der Wirtschaft geht. Wir bei ZF rechnen damit, dass im vierten Quartal und Anfang 2023 der Rückgang stattfinden wird. Aufgrund der aktuellen hohen Preissteigerungen und Verunsicherungen der Verbraucher gehen wir fest davon aus, dass wir einige Monate in eine rückläufige Wirtschaft laufen werden.

Autogazette: Auf dem Arbeitgebertag in Berlin hat Arbeitgeberpräsident Dulger darüber gesprochen, dass er sich um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland sorgt. Sind Sie auch sehr besorgt?

Scheider: Wenn Europa in eine Phase kommt, in der wir weitaus höhere Energiekosten haben, und das ist das, was gerade am naheliegendsten ist, dann berührt das die Wettbewerbsfähigkeit der Produktion in Europa. Wir sind auch bei ZF Teil des Exportweltmeisters Deutschland. Die überproportional zu anderen Regionen steigenden Kosten in unserem Heimatmarkt werden unsere Wettbewerbsfähigkeit schmälern – und das muss diskutiert werden.

«Es geht jetzt darum, Lösungen zu erarbeiten»

Autogazette: Was bedeutet das für die Gesellschaft? AFD und Linke kündigen einen heißen Herbst an und wollen gegen die Energiepolitik der Regierung protestieren. Ist die Energiekrise geeignet, die Gesellschaft zu spalten?

Scheider: Das glaube ich nicht. Letztendlich sind wir in einer Situation, die so nicht vorhersehbar war. Ich habe den Eindruck, dass der Großteil der Bevölkerung das auch versteht. Es geht jetzt darum, Lösungen zu erarbeiten. Das ist nicht trivial, manche Maßnahmen scheinen kurzfristig gedacht zu sein. Ich begrüße sie trotzdem, weil sie uns zumindest eine Maßnahmen- und Lösungsorientierung bringen. Dass es im extremen Spektrum auch immer Unzufriedenheit gibt, das gehört zur Demokratie.

Autogazette: Bosch hat das Ziel der Klimaneutralität bereits 2020 erreicht, ZF will es erst 2040 schaffen Warum sind sie nicht so ambitioniert unterwegs?

Scheider: Im Gegenteil. Als wir vor vier Jahren das Ziel der Klimaneutralität 2040 öffentlich bekannt gegeben haben, waren wir Vorläufer bei deutschen und europäischen Unternehmen. Wir haben ganz bewusst gesagt, dass wir schneller in die Klimaneutralität kommen wollen als es das europäische Ziel 2045/2050 vorsieht. Den Weg dorthin wollen wir nicht mit Zertifikaten erreichen, sondern mit tatsächlichen Maßnahmen, die eine echte Reduktion bedeuten. Dass ist der Weg von ZF und zwar in Scope 1 und Scope 2. Dann haben wir Scope 3, das ist der schwierigste, nämlich unsere Produkte in der Nutzung CO2-neutral zu bekommen.

Hier gehen wir zusammen mit Polestar einen sehr progessiven Weg. Polestar möchte bis 2030 ein CO2-neutrales Fahrzeug bauen. ZF hat sich hier als Partner in das Projekt eingeklinkt. Wir wollen zeigen, dass wir auch sehr schnell unsere gesamte Produktwelt in die CO2-Neutralität bekommen können.

«Wir gehen den Weg der tatsächlichen CO2-Neutralisierung»

Polestar will bis 2030 ein klimaneutrales Auto bauen. Dazu kooperiert man auf mit ZF. Foto: Polestar

Autogazette: Polestar-Chef Thomas Ingenlath sagt selbst, dass ein CO2-neutrales Auto bis 2030 eine Vision sei, von der er nicht weiß, ob sie bis dahin Wirklichkeit wird. Doch man müsse sich solche Visionen setzen, um sie erreichen zu können. Fehlt es der deutschen Autoindustrie ein wenig an solchen Visionen?

Scheider: Das glaube ich nicht. Denn der Fortschritt in der deutschen Autoindustrie hin zur Elektromobilität ist phänomenal. Wenn man sieht, wie viele Fahrzeuge, wie viele Konzepte es gibt, wie radikal Entwicklungsabteilungen umgeschaltet wurden auf die neuen Programme und wie die Strategien der Hersteller inzwischen auf die Elektromobilität ausgerichtet sind, dann ist da Beeindruckendes in den vergangenen Jahren entstanden. Trotzdem hat der Polestar-Chef recht: 2030 ist es eine Challenge, doch genau das brauchen wir. Es ist machbar, deshalb sind wir eingestiegen in das Projekt.

Autogazette: ZF setzt nicht auf Zertifikate. Wie problematisch ist für Sie der Weg von Konkurrenten, die Greenwashing betreiben und auf Kompensationsmaßnahmen setzen? Macht das Sinn?

Scheider: Ich möchte das nicht kommentieren: Wir gehen unseren Weg und wir gehen den Weg der tatsächlichen CO2-Neutralisierung. Damit fühlen wir uns wohl. Das ist das Einzige, was wir gegenüber unseren Mitarbeitern und der Öffentlichkeit vertreten können. Wir haben klare Reduzierungen an unseren Standorten, nachhaltig jedes Jahr zwei Prozent. Das ergibt über zehn Jahre 20 Prozent.

Da merkt man, da ist noch sehr viel übrig. Deshalb haben wir inzwischen ein großes Abkommen mit einem CO2-neutralen Stahlerzeuger geschlossen. Stahl und Aluminium sind bei uns im Produktprogramm nach wie vor, auch in zehn bis 15 Jahren, die großen CO2-Erzeuger. In diesem Bereich haben wir konkrete Schritte eingeleitet, wie wir in die CO2-Neutralität kommen. Wir haben grüne Power-Purchase-Agreements abgeschlossen und sind dabei, uns an Windparks indirekt zu beteiligen. Das liegt nahe, da ZF auch Lieferant für die Windpark- und die Windindustrie ist. Als wir vor vier Jahren unsere Strategie der Klimaneutralität auf den Weg gebracht haben, gab es noch viele Fragezeichen und für manche Themen noch keine Lösungen. Beispielsweise war der große Abschluss, den wir für CO2-neutralen Stahl geschlossen haben und den wir ab 2025 bekommen werden, vor vier Jahren nicht absehbar. Doch mit dem Weg, sich ein ambitioniertes Ziel zu setzen, obwohl man noch nicht alle Fragen gelöst hat, kommen wir über die Zeit zu den Lösungen.

«Herausforderungen liegen nach wie vor im Gasverbrauch»

Autogazette: Sie wollen bis 2030 die CO2-Emissionen an Ihren weltweiten Standorten um 80 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren. Worin liegt dabei die größte Herausforderung?

Scheider: Die Herausforderungen liegen nach wie vor im Gasverbrauch. Denn wir haben immer noch, auch für Produkte der Elektromobilität Härtereien, die sehr energieintensiv sind. Wir benötigen sie aber zum Beispiel für die Gehäuseproduktion. In der Vergangenheit wurden sie vor allem mit Gas betrieben. Die ganzen Ketten von fossilen Kraftstoffen auf Erneuerbare umzustellen, ist eine Herausforderung. Auch unsere Lieferenten müssen CO2-neutral sein. Das trifft gerade auf Stahl und Aluminium zu. Das bedeutet, dass wir neue Unternehmen unterstützen müssen, die diese Mengen an CO2-neutral erzeugten Aluminium und Stahl überhaupt herstellen. Das heißt, wir unterstützen Start-ups, damit das Realität wird.

Autogazette: Sie beziehen von 2025 bis 2032 jährlich 250.000 Tonnen grünen Stahl von dem schwedischen Start-up H2 Green. Das entspricht zehn Prozent des aktuellen Stahlbedarfs von ZF und sorgt für eine CO2-Einsparung von 475.000 Tonnen jährlich. Woher sollen die anderen 90 Prozent kommen? Bereits heute ist die Nachfrage größer als das Angebot.

Scheider: Deswegen ist es so wichtig, früh zu sein, schnell zu sein. Als wir den Vertrag mit H2 Green geschlossen haben, waren wir der größte Kunde für dieses Start-up. Das zeigt, dass wir sehr schnell, sehr frühzeitig unsere Verträge generieren. Auch unsere etablierten Lieferanten sind dabei, ihre Produktion umzustellen. Das heißt, wir bauen eine Roadmap auf, die mit den 2030er- und 2040er-Zielen kongruent sind. Die bisher abgedeckten zehn Prozent sind ein guter Einstieg, weitere Abschlüsse werden in Kürze folgen.

«Es ist nicht das Ziel, energieautark zu werden»

Windkraftanlagen in Niedersachsen. Foto: dpa

Autogazette: Wie schaut es mit der Eigenstromproduktion in Ihren Werken aus? Spielt das eine Rolle oder ist der damit zu erzielende Anteil zu marginal?

Scheider: Grundsätzlich möchten wir nicht davon abweichen, den Strom von Spezialisten zu bekommen. Wir wollen nicht ohne Not unsere Wertschöpfungstiefe erhöhen. Es gibt aber Bereiche, da macht das Sinn. In unserem Schweinfurter Werk hat es sich angeboten, da man eine gute Fläche für eine Solaranlage hatte. Doch es ist nicht das Ziel, dass wir energieautark werden wollen, sondern wir setzen weiter auf Partnerschaften. Mit den Power-Purchase-Agreements tun wir das aber so, dass wir die Investitionskraft bieten, damit Windparks, Solarparks überhaupt entstehen können. Im Gegensatz zu sonstigen Investitionsrechnungen, die auf eine zügige Amortisationskraft zählen, haben wir bei diesen Projekten die Amortisationszeiten deutlich verlängert. Wir erwarten erst nach vielen Jahren einen Return on Invest.

Autogazette: Deutschland hat sich ambitionierte Klimaschutzziele gesetzt. Bis 2030 will man zu einem Anteil von 80 Prozent Erneuerbaren Energien am Strommix kommen. In 2021 lag er gerade einmal bei 41 Prozent. Halten Sie dieses Ausbauziel nach wie vor für realistisch?

Scheider: Ich finde es gut, dass es ein anspruchsvolles Ziel gibt. ZF denkt immer in Szenarien. Aus meiner Sicht wäre es fahrlässig, wenn wir nur darauf setzen würden, dass es dazu kommt. Wir müssen uns Alternativen offen halten – und das machen wir. Wir spielen die Frage „Was wäre, wenn es nicht so ist?“ durch. Wenn man die aktuelle Situation sieht, dann gibt es Störgrößen, die den Pfad soweit stören könnten, dass das Ziel nicht erreicht wird. Insofern müssen wir alle alternativen Wege ausschöpfen und uns bei ZF darauf einstellen, wie wir unser eigenes Ziel erreichen, wenn das nationale Ziel doch nicht erreicht werden sollte.

«Die Genehmigungsprozesse sind zu kompliziert»

Autogazette: ZF bietet selbst Getriebe für Windanlagen an. Sehen Sie schon eine steigende Nachfrage nach diesen Getrieben?

Scheider: Leider ganz und gar nicht. Wir müssten quasi ab sofort in eine dreifache Installationsrate von Windenergieanlagen kommen, damit das national verkündete Ziel erreicht wird. Und das ab morgen. Wenn wir das erst in einiger Zeit schaffen wollen, dann müsste sich das sogar vervierfachen. Die Auftragseingänge sind überhaupt nicht da, die Genehmigungsprozesse sind zu kompliziert. Das führt dazu, dass die Anlagen nicht ausgebaut werden können. ZF hat mit einem Kunden eine 15 Megawattanlage für Windparks entwickelt. Das sind Anlagen, da kann eine Windradbis zu 20.000 Haushalte versorgen. Aber die Genehmigungen, dass wir mit diesen Anlagen an Nord- und Ostsee große Windparks aufbauen können, fehlen.

Autogazette: Wir reagieren Ihre Mitarbeitenden im Unternehmen auf die Nachhaltigkeitsstrategie? Ist es schwierig, sie auf dem Weg mitzunehmen?

Scheider: Nein, bei ZF ist es Teil der Strategie „Next Generation Mobility“. Wir haben unser gesamtes CO2-Neutralitätsprogramm unter das Stichwort „Acting Now“ gesetzt. Alle gehen gemeinsam voran, jeder versucht mit seinen Möglichkeiten den Weg zur CO2-Neutralität zu unterstützen. Wir haben mittlerweile dafür strukturierte Programme aufgebaut, die von den Mitarbeitern mit hoher Motivation aufgegriffen werden. Es gibt viele Vorschläge aus den Teams, die begeistern. Wir haben einmal im Jahr unsere internen Awards, da kommen großartige Ideen. Ich sehe es als Motivator für die ZFler, dass wir in Sachen Nachhaltigkeit vorne weglaufen.

«Ich sehe für Europa die Elektromobilität als Lösung»

Autogazette: Sie sprechen sich selbst für Technologieoffenheit aus. Doch sind die Karten im Pkw-Bereich nicht längst Richtung Elektroantrieb gefallen?

Scheider: Absolut. Ich sehe für Europa die Elektromobilität als die Lösung. Es ist auch politisch vorgegeben. Wir haben die Diskussion lange geführt, ob die anderen Technologien den Raum bekommen. Aber die Politik hat das nicht zugelassen. Trotzdem werden wir weiter an verschiedenen Technologien arbeiten, denn die Welt ist groß. Aber der Pkw ist aus ZF-Sicht ganz klar auf batterieelektrische Mobilität gesetzt. Im Lkw sind wir davon überzeugt, dass es auch die Brennstoffzelle geben wird. Deshalb gibt es von ZF jetzt auch eine Brennstoffzellen-Initiative, die unsere batterieelektrischen Antriebe für Lkw ergänzt. Beim Pkw bleibt es aber hauptsächlich bei der Batterie.

«Manche Technologien haben schon viele Prototypen erlebt»

Autogazette: Die deutsche Autoindustrie hat sich sehr lange schwer getan mit dem Thema Brennstoffzelle, während Hyundai und auch Toyota längst Fahrzeuge im Markt haben. Nun setzt BMW wieder darauf. Verwundert Sie das?

Scheider: Überhaupt nicht. Manche Technologien haben schon viele Prototypen erlebt. Das Entscheidende ist, dass der Gesamt-Businesscase steht. Das heißt, dass der Kraftstoff ein attraktives Preisniveau erreicht und die Technologie soweit erprobt ist, dass sie in allen klimatischen und sonstigen Bedingungen funktioniert. Kleinstserien sind nun einmal kein Durchbruch. Es erfordert oft lange Jahre von Ingenieurskunst, um eine Technologie so serienreif zu machen, dass man sie in großer Serie produzieren kann. Und dann kommt noch die Infrastruktur dazu. Deshalb bin ich für Europa außerordentlich skeptisch, aber es gibt Regionen in der Welt, die die Wasserstoffinfrastruktur so fördern, dass es für den ein oder anderen Autohersteller Sinn machen wird – wenn er in diesen Ländern präsent sein will – ein solches Fahrzeug im Angebot zu haben.

Autogazette: ZF hat mit Blick auf die Verkehrswende lange Zeit darüber gesprochen, Angebote wie einen autonom fahrenden People Mover zu machen. Doch um das Thema ist es ruhig geworden, nur der Transportdienstleister Transdev hat ihn im Einsatz. Haben Sie das Potenzial falsch eingeschätzt?

Scheider: Ganz im Gegenteil. Die autonomen Shuttles sind für uns ein Projekt, das wir mit unveränderter Kraft voranbringen und die aktuellen Diskussionen ums autonome Fahren bestätigen uns sogar, dass wir den richtigen Pfad eingeschlagen haben. Denn wir sind einen ganz anderen Weg als Start-ups gegangen oder mit hohem Kapital ausgestattete Technologiefirmen, die versucht haben, das Robo-Taxi in einem Schritt hinzubekommen. Unser Weg war, dass wir die Komplexität, in der ein solches Fahrzeug autonom fährt, Schritt für Schritt steigern. Das von Ihnen angesprochene Projekt in Rotterdam ist noch auf einer quasi abgesperrten Fahrspur unterwegs. Das ermöglicht Sicherheit, weil nicht die gleich die ganze Komplexität des Stadtverkehrs auf dieser Fahrspur stattfindet. Der nächste Schritt ist, dass wir in den Mixed Traffic gehen. Das wollen wir in den nächsten zwei bis drei Jahren erreichen.

Autogazette: Gibt es noch andere Partnerschaften?

Scheider: Daneben haben wir eine Partnerschaft mit der Deutschen Bahn und der Hamburger Hochbahn. Das sind nur zwei Beispiele von mehreren Kunden. Es gibt einen sehr großen, nichteuropäischen Kunden, der das Potenzial hat, in mehreren Städten solche People Mover in Betrieb zu nehmen. Deshalb gehen wir konsequent unseren Weg, die Komplexitätsfähigkeit des Systems im gemischten Verkehr weiter auszubauen und hoffentlich in zwei oder drei Jahren beispielsweise an Flughäfen oder bestimmten beruhigten Bereichen in einer Stadt vollautonom fahren zu können. Darüber hinaus ist es für ZF ein wichtiger Technologieträger. Über das Shuttlegeschäft haben wir unsere Hochleistungscomputer entwickelt und etabliert und erstmalig unsere Software in kompletten Systemen angeboten. Mittlerweile verkaufen wir unsere Hochleitungsrechner in sehr, sehr hohen Stückzahlen an OEMs. Es ist auch ein Technologietransfer, der unserem Unternehmen in der Strategieumsetzung sehr geholfen hat.

Das Interview mit Wolf-Henning Scheider führte Frank Mertens

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