Deutschland darf beim autonomen Fahren nicht ins Hintertreffen geraten. Im Interview mit der Autogazette spricht Continental-Forschungschef Christian Senger über den Stand der Technik und notwendige Rahmenbedingungen für selbstfahrende Autos.
Europa riskiert nach Auffassung von Continental, beim Zukunftsthema autonomes Fahren ins Hintertreffen zu geraten. «Europa als Ursprungsland des Automobils läuft mit seiner Tradition im Maschinenbau Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Die Gesetzgebung sollte weiterhin ihre taktgebende Rolle ausschöpfen und alles unternehmen, damit die neuen Technologien und dessen Hochlauf nicht nur auf Straßen außerhalb Europas erlaubt werden», sagte Continental-Forschungschef Christian Senger im Interview mit der Autogazette.
«Technologien werden im Anwendungsmarkt entstehen»
Wie Senger sagte, müsse die Politik nun dafür sorgen, «dass Europa, insbesondere ein Land wie Deutschland, schnellstmöglich zu einem Anwendungsmarkt fürs automatisierte Fahren wird. Es muss eine Autobahn geben, die durch mehrere europäische Länder führt und auf dem automatisiertes Fahren stattfinden kann». Neben der Infrastruktur müsse es zudem ein Rechts- und Sicherheitssystem geben.
«Wenn wir es in den nächsten drei Jahren verpassen, hierfür die Grundlagen zu legen, werden Arbeitsplätze nicht bei uns entstehen, sondern im außereuropäischen Ausland. Den anstehenden Mobilitätswandel dürfen wir in Deutschland nicht verpassen.» Deshalb müsse dem Kunden auch die entsprechende Technik angeboten werden, «die USA sind hier offensichtlich daran interessiert».
Nach Auffassung von Senger entstehe durch das automatisierte Fahren «in Teilen eine neue Industrie aus Daten- und Kartendiensten - und diese Technologien werden im Anwendungsmarkt entstehen». Senger warnte davor, den Wettlauf beim automatisierten Fahren zu einem Schönheitswettbewerb unter den deutschen Herstellern zu machen. «Wir müssen dorthin schauen, woher die Konkurrenz kommt. Das sind die USA, China und Japan.»
«Hochautomatisiertes Fahren nicht vor 2020»
Autogazette: Herr Senger, Audi hat gerade mit einem A7 autonom die Strecke von Stanford nach Las Vegas von 900 Kilometer zurückgelegt. Man kann den Eindruck bekommen, autonomes Fahren könnte gleich morgen losgehen.
Christian Senger: Damit macht ein Hersteller wie Audi die Straße zu einer realen Erprobungsumgebung und zeigt, wie weit man bereits beim automatisierten Fahren mit seiner Technologie ist.
Autogazette: Trägt eine solche Langstreckenfahrt oder die Fahrt im Oktober mit einem fahrerlosen Audi RS7 auf dem Hockenheimring nicht dazu bei, Erwartungen zu wecken, die die Technik als auch die Gesetzgebung längst nicht halten können?
Senger: Natürlich ist auf dem Weg zum automatisierten Fahren noch eine Menge zu tun. Doch mit Blick auf die Fahrerassistenzsysteme ist zu beobachten, dass sich dieses Feld von einem Nischen- zu einem Volumenmarkt entwickelt. Technisch wird hochautomatisiertes Fahren ab dem Jahr 2020 möglich sein. Auf dieses Ziel muss man ambitioniert hinarbeiten.
Autogazette: Die Roadmap von Continental sieht hochautomatisiertes Fahren auf Autobahnen für 2020 vor, vollautomatisiertes Fahren erwarten Sie 2025. Dieser Zeitplan steht also unverändert?
Senger: Korrekt. Hochautomatisiertes Fahren wird vor 2020 nicht auf die Straße kommen.
«Neue Stufe unseres elektronischen Horizonts gezeigt»
Autogazette: Warum?
Senger: Weil sie nicht nur eine deutliche Erweiterung der Sensoren benötigen, sondern auch eine bessere Leistung bei der Erkennungsleistung. Es wird ein redundantes System benötigt. Es müssen Elektroniken geschaffen werden, die sich komplett spiegeln. Zusätzlich sehen wir, dass automatisierte Fahrzeuge weiter nach vorne und sogar um die Kurve blicken müssen, um wirklich komfortabel zu werden. Dafür setzen wir auf die Vernetzung von Fahrzeugen. Auf der diesjährigen CES haben wir zusammen mit HERE und IBM eine neue Stufe unseres elektronischen Horizont gezeigt. Mit dieser Technologie wird es möglich, Echtzeitdaten zu kommenden Streckenabschnitten auf eine digitale Karte zu bringen und für die Fahrzeugelektronik nutzbar zu machen.
Autogazette: Wo sehen Sie die größten Hemnisse für autonomes Fahren: sind sie technischer oder rechtlicher Art?
Senger: Wir sind für die Technik zuständig...
Autogazette:...doch ohne die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen nutzt Ihnen die schönste Technik nichts...
Senger: ...der Trend ist klar: In Zukunft werden die Fahrerassistenzsysteme noch mehr Leistung bekommen. Es geht jetzt nur noch um die Frage, ob der Fahrer die Verantwortung, die bislang ausschließlich bei ihm lag, auch ans Auto abgeben will? Wenn das durch Gesetze nicht ermöglicht würde, gehe ich dennoch davon aus, dass die Fahrerassistenzsysteme immer besser werden. 70 Prozent des Technologieumfangs braucht man ohnehin - und der ist nicht von den Gesetzen abhängig.
«Preis wird nicht primär von Hardware getrieben»
Autogazette: An welchen Stellen reicht die Technik heute noch nicht aus, um wirklich sicher autonom unterwegs zu sein?
Senger: Wir können bereits derzeit mit den Fahrerassistenzsystem sehr sicher automatisiert unterwegs sein, aber es gibt noch wenige Fälle, in denen wir nicht auf alles so reagieren können, wie nötig.
Autogazette: Braucht es dafür neuer Hardware, damit das funktioniert?
Senger: Nein, wir brauchen keine grundsätzlich neuen Technologien, aber die Leistung muss erhöht werden. Wir reden hier über eine andere Auswertungsleistung. Die Herausforderung liegt also in der Fahrzeugvernetzung und Softwareperformance.
Autogazette: Ließe sich autonomes Fahren denn heute schon kostendeckend darstellen?
Senger: Unsere Mobilitätsstudie hat gezeigt, dass Autofahrer in Deutschland bereit sind, rund 2900 Euro für die Technologie zusätzlich auszugeben. Wenn Sie das heute bestellen würden, könnten wir diesen Betrag noch nicht erreichen.
Autogazette: Wo liegt man denn derzeit?
Senger: Wenn ich mir die heutigen Erprobungsfahrzeuge anschaue, dann ist die dort verbaute Technik deutlich teurer als das Grundauto. Das kann nicht die Lösung sein. Doch nach den neuen Regularien des EuroNCAP, dass für das Erreichen von 5 Sternen auch Fahrerassistenzsysteme vorsieht, haben diese Autos Grundsensoren an Bord. Der Preis wird nicht primär durch die Hardware getrieben, sondern durch die Software-Algorithmen. An den Codes dafür arbeiten auch unsere Softwarespezialisten.
Autogazette: Auch wenn Sie mir keinen Betrag nennen wollen: Halten Sie es für möglich, bis zum Jahr 2025 den Betrag von 2900 Euro zu erreichen?
Senger: Daran arbeiten wir jedenfalls. Unter bestimmten Kompromissen sollte es auch möglich sein.
Autogazette: Welchen?
Senger: Es wird am Ende nur einige wenige Grundkomponenten geben, die sich nur durch die Software voneinander unterscheiden. Bestimmte Test- und Absicherungsumfänge müssen dann quasi aus der Schublade kommen.
«Sind eine der Top-Adressen für die Hersteller»
Autogazette: Was sind die nächsten Schritte auf dem Weg zum vollautomatisierten Auto?
Senger: Sicherlich auf der einen Seite das teilautomatisierte Einparken, bei dem der Fahrer weiterhin der Überwacher des Fahrzeugs bleibt. Auf der anderen Seite werden wir eine massive Erhöhung der Leistung bei den Fahrerassistenzsystemen erleben. Selbst Oberklassefahrzeuge mit ersten Automatisierungsfunktionen haben heute noch funktionale Grenzen, doch die werden nach und nach verschwinden. Es wird eine lange Phase geben, wo sie die Hände noch am Lenkrad lassen müssen.
Autogazette: Sie befinden sich in einer Forschungsallianz mit BMW. Inwieweit führt das bei anderen Herstellern zu Missstimmungen?
Senger: (lacht) Es ist nichts Neues, dass Hersteller mit Zulieferern bereits in der Vorentwicklungsphase von Produkten zusammenarbeiten. Mit den hohen Anforderungen, die sich aus dem automatisierten Fahren ergeben, war es nur konsequent, die Zusammenarbeit zu erweitern und eine Forschungsallianz einzugehen. Natürlich muss man sicherstellen, dass der Informationsschutz gewährleistet ist - und das tun wir auch. Wir sind eine der Top-Adressen für die Hersteller, die beim automatisierten Fahren vorn mit dabei sein wollen. Darüber hinaus wollen auch Halbleiterhersteller mit uns zusammen arbeiten. Grund dafür ist, dass unsere Stückzahlen bei den Fahrerassistenzsystemen enorm wachsen und sich entsprechende Skaleneffekte ergeben.
Autogazette: Wenn Sie an das selbstfahrende Auto denken, denken Sie dann auch an die Stadt der Zukunft.
Senger: In den nächsten 25 Jahren wird die Automatisierungsfunktion aus dem Auto ebenso nicht mehr wegzudenken sein, wie heute das ABS. Das Auto der Zunkunft wird zudem dazu beitragen, die Kosten für die Instandhaltung der Autobahnen und auch Bundesstraßen und der Straßen in der Innenstadt zu reduzieren.
Bessere Klimabilanz durch automatisiertes Fahren
Autogazette: Wieso?
Senger: Ein Beispiel: Derzeit gibt es zumeist recht breite Straßen, die Toleranzen für Fahrfehler vorsehen. Diese Toleranzen brauchen wir nicht mehr beim Auto der Zukunft, entsprechend wird der Straßenbau günstiger. Wenn ich eine Autobahn um eine Spur bei trotzdem gleicher Spurverfügbarkeit reduziere, dann können sie sich zudem vorstellen, welche Kosten auch für die Instandhaltung gespart werden können. Es sind Milliarden von Euro. Deshalb müssen schnellstmöglich die Rahmenbedingungen für das automatisierte Fahren geschaffen werden.
Autogazette: Welche Einflüsse kann denn das autonome Fahren auf die Klimabilanz haben?
Senger: Der Verkehrsfluss durch automatisiertes Fahren kann bereits ab einem Anteil von fünf Prozent am Gesamtfahrzeugbestand positiv beeinflusst werden. In 25 Jahren rechnen wir damit, dass bis zu 25 Prozent des weltweiten Fahrzeugsbestands Fahrzeuge sind, die automatisiert fahren können. Automatisiertes Fahren wird deshalb auch positive Auswirkungen auf das Klima haben.
Autogazette: Volvo sieht autonomes Fahren als Vehikel zum unfallfreien Fahren. Können selbstfahrende Autos den Straßenverkehr wirklich sicherer machen?
Senger: Auf jeden Fall. Normale Sicherheitsfunktionen wie Airbags oder ESC sind mittlerweile in fast jedem Auto verbaut, jetzt wird es zu einer massiven Ausweitung der Fahrerassistenzsysteme kommen. Um die Vision Zero zu erreichen, also keine Unfälle mehr zu haben, müssen wir aber auch bei allen Überlegungen andere Verkehrsteilnehmer wie Fahrradfahrer oder Fußgänger in die intelligente Verkehrsplanung mit einbeziehen.
Autogazette: Jeder der drei deutschen Premiumhersteller sieht sich beim autonomen Fahren in der Führungsrolle. Mal ehrlich, wer ist bei der Technologie am weitesten?
Senger: Technisch sind es ganz klar die OEMs, die heute und in Zukunft den Ton angeben. In einer Führungsolle sehe ich jedoch auch ein Unternehmen der IT-Branche.
«Sehe Google vorne mitspielen»
Autogazette: Also Google?
Senger: Ja, ich sehe Google derzeit beim Thema automatisiertes Fahren vorne mitspielen. Und zwar nicht unbedingt, weil sie technisch besser wären, sondern weil sie mit Ihrem Versuchsfahrzeug eine neue Vision des Fahrzeugs gezeigt haben, die automatisiertes Fahren auch hinsichtlich der Gewährleistung individueller Mobilität für zum Beispiel sehbehinderte Menschen positioniert.
Autogazette: Sind Sie Google auch deshalb so wohlgesonnen, weil Sie beim Thema autonomes Fahren zusammenarbeiten?
Senger: Wir freuen uns sehr als Projektpartner mit von der Partie zu sein. Für die Prototypenfahrzeuge von Google liefern wir Bremssysteme, Reifen, Sensorik und Steuerungselektronik.
Autogazette: Warum nehmen Sie Google als Player beim autonomen Fahren so ernst?
Senger: Das Auto, wie wir es kennen, orientiert sich an Traditionen, an Markenwerten. So etwas gibt es in der IT-Branche nicht, hier geht man mit neuen Ideen unbelastet an die Sache heran. Bei Google setzt man auf ein daten- und kartenbasiertes Fahren. Ein Auto bewusst ohne Lenkrad, Brems- und Gaspedal zu präsentieren, das ist ein Statement. Google hat für mich eine Leuchtturm-Funktion beim automatisierten Fahren.
Autogazette: Jetzt ist Google jedoch zurückgerudert und bringt doch ein Lenkrad, um die Straßentauglichkeit zu bekommen.
Senger: Das ist egal. Google hat hier die Latte mit seinem Auto sehr hoch gelegt.
Autogazette: Das Auto muss also ganz anders gedacht werden, so wie es Mercedes jetzt auf der CES mit dem F015 getan hat?
Senger: Es wird in den nächsten Jahren vor allem darum gehen, das Vertrauen der Fahrer in die Elektronik zu erhöhen. Dazu muss der Fahrer was das Fahrzeug sieht und auf welcher Basis Assistenzsysteme Entscheidungen treffen. Umgekehrt muss das Fahrzeug dem Fahrer die Wünsche quasi von den Augen ablesen. Dazu setzen wir auf Technologien wir Head-up Displays oder Innenraumkameras. Für die Zukunft muss das Auto ganz anders gedacht werden, der Hersteller muss zu einem Mobilitätsanbieter werden. Wenn Sie sich nur anschauen, welche Historie das Top-Management der Hersteller oder auch der Zulieferer hat, dann haben sie alle das gleiche Mindset: sie haben jahrzehntelange Erfahrungen in der Autoindustrie. Einer Industrie, die jetzt jedoch vor einer radikalen Umwälzung mit dem automatisierten Fahren steht.
«Volvo sollte man auf der Rechnung haben»
Autogazette: Haben Sie das Gefühl, dass man beim autonomen Fahren sein Augenmerk zu stark auf BMW, Audi und Mercedes legt anstatt auch auf Volvo?
Senger: Volvo sollte man auf jeden Fall auf der Rechnung haben.
Autogazette: Für wie wichtig erachten Sie ein Projekt wie Drive Me von Volvo für die Serienreife des autonomen Fahrens?
Senger: Jeder Flottenversuch ist hilfreich. Wir können nur über Statistiken belegen, wie sinnvoll automatisiertes Fahren wirklich ist und wie wir den Verkehr besser machen können. Volvo treibt hier einen erheblichen Aufwand und bekommt entsprechend auch Unterstützung von der schwedischen Regierung.
Autogazette: Haben Sie mit Blick auf das Drive Me-Projekt manchmal das Gefühl, dass autonomes Fahren bis auf Schweden in Europa und Deutschland ausgebremst wird?
Senger: Dem Konsumenten muss die Technik angeboten werden, die USA sind hier offensichtlich daran interessiert. Man muss sich die Frage stellen, wo die Technologien, die Arbeitspätze der Zukunft entstehen werden? Durch das automatisierte Fahren entsteht in Teilen eine neue Industrie aus Daten- und Kartendiensten - und diese Technologien werden im Anwendungsmarkt entstehen.
Autogazette: Diesen Anwendungsmarkt sehen Sie nicht in Deutschland?
Senger: Europa als Ursprungsland des Automobils läuft mit seiner Tradition im Maschinenbau Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Die Gesetzgebung sollte weiterhin ihre taktgebende Rolle ausschöpfen und alles unternehmen, damit die neuen Technologien und dessen Hochlauf nicht nur auf Straßen außerhalb Europas erlaubt werden.
«Wir müssen europäisch denken»
Autogazette: Was erwarten Sie denn von der Politik?
Senger: Sie muss dafür sorgen, dass Europa, insbesondere ein Land wie Deutschland, schnellstmöglich zu einem Anwendungsmarkt fürs automatisierte Fahren wird. Es muss eine Autobahn geben, die durch mehrere europäische Länder führt und auf dem automatisiertes Fahren stattfinden kann. Hierzu gehört dann nicht nur die Infrastruktur, sondern auch ein Rechts- und Sicherheitssystem. Wenn wir es in den nächsten drei Jahren verpassen, hierfür die Grundlagen zu legen, werden Arbeitsplätze nicht bei uns entstehen, sondern im außereuropäischen Ausland. Den anstehenden Mobilitätswandel dürfen wir in Deutschland nicht verpassen.
Autogazette: Kann Schweden mit seinem Drive Me-Projekt in Göteborg ein Vorbild für andere Länder sein?
Senger: Durchaus. Doch wir müssen europäisch denken und den Wettlauf beim automatisierten Fahren nicht zu einem Schönheitswettbewerb unter den deutschen Herstellern machen. Wir müssen dorthin schauen, woher die Konkurrenz kommt. Das sind die USA, China und Japan.
Das Interview mit Christian Senger führte Frank Mertens