Vielen Menschen wird beim Reisen schlecht. Warum dem so ist und wie man die Reisekrankheit erkennen und ihr vorbeugen kann, daran forschen der Zulieferer ZF und Wissenschaftler der Universität Saarland.
Ziel des Forschungsprojektes ist es dabei herauszufinden, welche Faktoren maßgeblich zur Übelkeit der Fahrzeuginsassen beitragen. Gemessen wird dabei zum Beispiel Veränderung der Körpertemperatur sowie der Hautleitfähigkeit.
Bei bislang über zehntausend Fahrkilometern sammelten die Forscher mehr als 50.000 Gigabyte an physiologischen Merkmalen des zentralen und autonomen Nervensystems als Thermografie-, Bild- und Fahrdynamikdaten.
Motion Sickness nimmt beim autonomen Fahren zu
Diese Motion Sickness wird mit steigendem Automatisierungsgrad der Fahrzeuge in Zukunft zunehmen, weil Passagiere zum Beispiel gegen die Fahrtrichtung unterwegs sind und im Auto zunehmend anderes tun, als ihre Aufmerksamkeit auf den Verkehr zu richten.
Wie die Reisekrankheit zustande kommt und wie man sie vermeiden kann, darüber sprach die Autogazette mit Florian Dauth und Prof. Daniel J. Strauss. Dauth ist bei ZF in der Vorentwicklung Advanced Systems Development zuständig für die Untersuchung von Fahrzeugbewegungen mit Blick auf den Menschen. Der Neurotechnologe Strauss ist Direktor der Systems Neuroscience & Neurotechnology Unit (SNNU) an der Universität des Saarlandes und der HTW Saar.
«Frauen sind normalerweise etwas sensitiver als Männner»
Autogazette: Warum leidet der Mensch bisweilen an Übelkeit beim Fahren?
Daniel J. Strauss: Der Mensch leidet immer dann, wenn er nicht rausschaut. Also: Ein Fahrer in einem Fahrzeug wird nicht motion sick. Der Mensch auf dem Rücksitz aber – auch in derzeitigen nicht autonomen Fahrzeugen –, der etwas arbeitet oder liest und nicht antizipiert, welche Dynamik auf ihn zukommt, wird oftmals schon reisekrank. In härteren Situationen kann man sagen, dass zwei Drittel der Menschen motion sick werden, ein Drittel davon sogar sehr stark. Frauen sind normalerweise ein bisschen sensitiver als Männer. Auch Kinder von etwa sechs bis zwölf Jahren sind im Schnitt etwas empfindlicher.
Autogazette: Wie erklären Sie sich das?
Strauss: Ihr Gehirn macht permanent irgendwelche Vorhersagen: was kommt jetzt und wie passt, was ich sehe, mit der gefühlten Bewegung zusammen. Wenn ich also die Dynamik, die auf mich zukommt, nicht antizipieren kann, entsteht ein Mismatch, eine Diskrepanz. Dann kann das Gehirn mit der Vorhersage der Dynamik und der tatsächlich von mir erlebten Dynamik nichts anfangen. Wir nennen das einen sensorischen Konflikt, und der führt letztendlich zu dieser Motion Sickness.
Autogazette: Warum interessiert sich ZF für Motion Sickness?
Florian Dauth: ZF beschäftigt sich intensiv mit dem automatisierten Fahren, und deswegen ist der Komfort der Insassen ein entscheidender Faktor. Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit sind bei langen Autofahrten auf der Rückbank oder dem Beifahrersitz für zwei Drittel aller Passagiere eine häufige höchst unangenehme Begleiterscheinung. Wir wollen dieses Problem lösen.
«Wir ergründen, wann es einem Passagier schlecht wird»
Autogazette: Wie gehen Sie vor?
Dauth: Bei den Betrachtungen zur Motion Sickness geht es nicht um ein konkretes Produkt, das sich der Insasse wünscht. Hier geht es zunächst um den menschlichen Körper an sich und was mit ihm passiert. Wir ergründen, was in welchen Situationen und zu welchen Parametern passiert und wann es einem Passagier schlecht wird.
Autogazette: Eine höchst komplexe Materie…
Strauss: Ja, aber man befasst sich schon sehr lange damit, weil Menschen auch schon sehr lange das Schiff als Fortbewegungsmittel nutzen. Aber gerade in den letzten Jahren gab es ein verstärktes Interesse durch die selbstfahrenden Fahrzeuge, bei denen eben viele Menschen im Fahrzeug als passive Passagiere sitzen und andere Dinge tun.
Autogazette: Warum nimmt die Häufigkeit dieses Übelkeitssymptoms beim automatisierten Fahren – also ab Level 2+ bis letztendlich Level 5 signifikant zu?
Strauss: Wenn Menschen im Fahrzeug andere Dinge tun und sich nicht mehr mit der Fahrdynamik beschäftigen, die beispielsweise in Form einer Kurve auf sie zukommt, dann nimmt Motion Sickness entsprechend zu, sobald ich in diese Kurve fahre.
Autogazette: Wie weit sind Sie mit dem Bewältigen der Motion Sickness?
Strauss: Stellen Sie sich vor: Die Familie fährt in den Urlaub, der Fahrer blickt in den Rückspiegel und sieht, dass es den Kindern nicht wirklich gut geht. Daraufhin verändern Sie als Fahrer Ihren Fahrstil, verbessern ihn. Ein Fahrroboter macht das im Moment in der Form noch nicht. Der plant ja seine Überholmanöver und alles, was er tut, anhand von anderen Faktoren. Aus meiner Sicht könnte das neben der Numerik noch ein zusätzlicher verstärkender Grund sein. Der Mensch hat ja eine gewisse emotionale Intelligenz, mit der er sich in andere Personen hineinversetzen kann.
Dauth: Aktuell fokussiert man sich in der Entwicklung priorisiert darauf, automatisierte Fahrfunktionen sicher darzustellen, also auf einen sicheren Transport von A nach B. Dafür wird die entsprechende Umgebungssensorik verwendet. Die Fähigkeit eines automatisierten Fahrzeuges, auf die Befindlichkeit von Passagieren zu reagieren, wie es Herr Strauss gerade erwähnt hat, geht natürlich darüber hinaus. Deshalb betrachten wir in einem Vorentwicklungsstadium auch den Innenraum und das Befinden der Passagiere, um darauf reagieren zu können. Die Gesellschaft setzt in Zukunft einen sicheren Transport von A nach B voraus. Für Mobilitätsanbieter könnte dann der Fahrkomfort das wichtigste Entscheidungskriterium sein – eine Fahrt ohne das Auftreten von Motion Sickness bedeutet also für Mobilitätsanbieter einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.
«Der eine Passagier reagiert heftiger als der andere»
Autogazette: Wie läuft Ihr Forschungsprojekt ab?
Dauth: Es ist ein dreistufiger Ablauf, wie wir in der Entwicklung aktuell vorgehen. Wir haben schnell erkannt, dass die Reisekrankheit ein sehr individuelles Phänomen ist. Der eine Passagier reagiert heftiger als der andere. Das hat zu dem Konzept geführt, dass einerseits eine Erkennung des Passagierzustandes notwendig ist (Perception Part), im zweiten Schritt folgt die Evaluierung der Daten (Think Part) und darauf folgt dann drittens, mit den richtigen Schnittstellen zu den richtigen Aktuatoren die richtigen Gegen- oder Präventivmaßnahmen im Fahrzeug einzuleiten (Act Part).
Strauss: Dazu muss man wissen, dass zum Beispiel das Innenohr eines jeden Menschen anders konstruiert ist. Allein schon aufgrund der anatomischen Strukturen gibt es Unterschiede. Hinzu kommen Unterschiede in der Physiologie, und beides spricht auch andere Systeme an. Es gibt Menschen, die sich an dieses Phänomen des Mismatch gewöhnen können, andere nicht. Daher die individuelle Erkennung in unserem gemeinsamen Projekt.
Autogazette: Konkret nochmal zu der dreistufigen Entwicklung. Was leitet ZF gegen Motion Sickness ein?
Dauth: Wir konzentrieren uns auf zwei Tools – auf Vermeidung und auf Gegenmaßnahmen (Avoidance und Counter Measures). Bezogen auf einen Passagier: Wenn der Mismatch festgestellt und der Grad an Motion Sickness angepasst wurde, dann geht es in erster Linie darum, das Ganze fahrdynamisch zu unterdrücken. Wir wollen also gar nicht zulassen, dass diese Phänomene ihre extreme Wirkung zeigen können. Dazu haben wir ein erstes Konzept vorgestellt – wir haben es mit der Bezeichnung künstliche emotionale Intelligenz präsentiert. Hier messen wir quasi kontinuierlich die relevanten Vitalwerte eines Passagiers. Über jegliche Fahrmanöver hinweg wird auch in kleineren Zeiträumen die Körperreaktion gemessen. Entstanden ist ein Algorithmus, der über mehrere hundert Kilometer erlernt, wie die Reaktionen des Passagiers sind. Die gespeicherten Werte erlauben dann später der Fahrstrategie eines automatisierten Fahrzeugs, Manöver in einem definierten Fahrdynamikbereich zu planen, wo wenige Muster dieser Vitalwerte erkannt wurden.
«Über fünfzigtausend Gigabyte an psychologischen Daten»
Autogazette: Wie kann man sich das vorstellen?
Dauth: Während der Fahrt lernt ein Algorithmus anhand der relevanten Vitalwerte zu verstehen, wie der Passagier auf bestimmte Fahrmanöver reagiert – unabhängig von der Menge der Daten, die wir in der Entwicklung eingefahren haben. Bei mehr als zehntausend Fahrkilometern haben wir über fünfzigtausend Gigabyte an physiologischen Daten des zentralen und autonomen Nervensystems gesammelt, in Form von Thermografie-, Bild- und Fahrdynamikdaten.
Autogazette: Im Vergleich zur Erprobung neuer Fahrzeuge hören sich für den Laien über zehntausend Fahrkilometer zunächst mal nach relativ wenig an.
Strauss: Es geht ja um die Konsistenz der Daten. Das war eine sehr aufwendige Studie mit Probanden, die dafür auch sehr viel Zeit zur Verfügung gestellt haben. Wir folgen dabei verschiedenen Strategien. Man hat sie einerseits komplett verkabelt – das sind für uns die qualitativ besten Daten, die wir bekommen können. Parallel dazu haben wir auch die kontaktlosen Kamerasysteme eingesetzt, um zu schauen, wie gut wir die Aussage von den kontaktbehafteten Messungen durch die kontaktlose, kamerabasierte Messung annähern können. Deswegen ist das nicht nur ein sehr wertvoller Datensatz, sondern eigentlich schon ein Datenschatz, weil man durch die Konsistenz dieser Daten sehr viel lernen kann. Wir können sowohl die kontaktbehaftete Messung als auch die kontaktlose Messung mit der Fahrdynamik dann in Einklang bringen.
Autogazette: Sie planen unterschiedliche Gegenmaßnahmen, idealerweise die Vermeidung der Motion Sickness und wie man sie bei Aufkommen eindämmen kann. Wie sieht das im Einzelnen aus?
Dauth: Zum einen beschäftigen wir uns mit Avoidance, also der Vermeidung von Motion Sickness. Das kann beispielsweise durch eine präventive Fahrweise ermöglicht werden. Die sogenannten Counter Measures, Gegenmaßnahmen, entwickeln wir aktuell, sofern Motion Sickness dennoch auf- oder eintritt. Eine Gegenmaßnahme könnte sein, dass dem Passagier seine Antizipationsmöglichkeit zurückgegeben wird, obwohl er nicht aus dem Fenster schaut.
«Wir sprechen Vielzahl von Sinnesreizen an»
Autogazette: Wie geht das?
Florian Dauth: Wir sprechen abgesehen von dem Blick auf die Fahrbahn weitere Sinnesreize des Menschen an, um diese Information zu transportieren. Hier sind akustische Signale in der Entwicklung. Die generierte Akustik im Fahrzeug enthält also Informationen, die Ihnen sagen, wie die kommende Fahrdynamik sein wird. Als konkretes Beispiel: vor einer Kurve bekommen Sie über diese Akustik Informationen, dass eine Links- oder Rechtskurve kommt. Das haben wir den Probanden via Kopfhörer eingespielt. Ein weiterer Sinnesreiz wäre haptisches Feedback, dass wir also über taktile Reize auf der Haut des Passagiers die Richtungsinformationen darstellen wollen. Das tun wir über das sogenannte Ultrasound Haptic – über Ultraschall, der auf der Haut interferiert.
Aktuell wird parallel auch noch untersucht, inwiefern sich die Lichtgestaltung im Innenraum nutzen lässt. Verschiedene Helligkeitsstufen oder eine quasi naturalisierte Lichtinformation, so dass auf einer Seite des Innenraums Lichtinformationen erscheinen, bevor eine Kurve kommt. Sprich: Über diesen Sinneskanal können dem Passagier auch Informationen zur Verfügung stehen.
Autogazette: Bedeutet das, dass der Fahrer sich, so wie er mit neuen Signale zum automatisierten Fahren zurechtkommen muss, an diese Signale, diesen Mix aus Ultraschall Geräuschen und Lichtzeichen multimodal gewöhnen kann?
Daniel J. Strauss: Wenn es subliminal, also unter der Wahrnehmungsgrenze, möglich ist, dann ist ja keine lange Gewöhnungsphase erforderlich. Man kann aber davon ausgehen, dass in härteren Fällen sich mit supraliminalen Maßnehmen, die ein Mensch wahrnimmt, ein besseres Ergebnis erzielen lässt. Und das kann dazu führen, dass man sich erst daran gewöhnen muss. Deshalb noch etwas, das zum Thema passt und das viele vermutlich nicht wissen: Wir haben ja darüber gesprochen, dass einem wirklich sehr schlecht werden kann.
Und tatsächlich ist es mit Motion Sickness so, dass der Körper wie bei einer Vergiftung reagiert. Das hat mit unseren Vorfahren zu tun: Früher hatte man eben keine technischen Systeme, um sich fortzubewegen. Die Hirnstrukturen, die dafür zuständig sind, diese Art von Informationen zu verarbeiten, haben sich im Grunde kaum verändert. Das menschliche Hirn kann den technologisch hervorgerufenen Mismatch deshalb nicht interpretieren. Die einzig konsistente Erklärung für das Gehirn ist, dass der menschliche Körper vergiftet sein muss. Daher reagiert der Körper ähnlich und es wird einem schlecht. Sie können sich vorstellen, dass die logische Konsequenz – Erbrechen – das Problem nicht löst.
«Wie können wir für den Nutzer die Fahrweise optimieren»
Autogazette: Worauf kommt es ZF bei diesem Projekt insbesondere an?
Dauth: Für uns ist die wichtige Erkenntnis: Wie können wir für den Nutzer die Fahrweise so optimieren, dass am Ende jeder komfortabel unterwegs ist. Es geht darum, einerseits eine wissenschaftliche Basis zu bilden. Andererseits denken wir heute schon in einem System. Diese Komponenten, die das ZF-Portfolio bietet, sollen die Gegenmaßnahmen einleiten oder aber Motion Sickness gar nicht erst aufkommen lassen. Die intelligente Kombination all dieser Komponenten hinsichtlich Fahrkomfort wird durch unsere wissenschaftliche Grundlage ermöglicht.
Das Interview mit Florian Dauth und Daniel J. Strauss führte Susanne Roeder