ZF arbeitet intensiv am autonomen Fahren. Auf dem Weg dorthin kommt auch dem Fahrwerk eine besondere Bedeutung zu, wie Peter Holdmann sagte, der beim Zulieferer Divisionsleiter Pkw Fahrwerkstechnik ist.
„Wenn autonomes Fahren kommt, bin ich davon überzeugt, dass die Eigenschaft des Fahrwerks noch relevanter wird“, sagte Holdmann im Gespräch mit der Autogazette. „Denn wenn man mit dem Auto mitfährt, ist man insbesondere in Bezug auf den Fahrkomfort viel empfindlicher, als wenn man selbst der Fahrer ist“, fügte er hinzu.
Nachdem man in den zurückliegenden Jahren der Meinung sein konnte, dass das autonome Fahren quasi vor der Tür steht, hat sich in der Branche mittlerweile etwas Ernüchterung breit gemacht. Es wird noch länger dauern, bis wir vollautonome Fahrzeuge der Stufe Level 5 auf den Straßen sehen. Für Fahrwerkspezialist Holdmann ist es mit Blick auf seiner Arbeit indes irrelevant, welcher Automatisierungsgrad im Auto herrscht. „Letztendlich ist das für uns im Fahrwerk egal“, sagt er.
Bedeutung des Fahrwerks steigt
Ihm und seinem Team geht es immer darum, das Fahren so komfortabel und sicher wie möglich zu gestalten, egal ob der Fahrer eher gemütlich oder sportiv unterwegs sein möchte. „Wenn aber das automatisierte Fahren stärker kommt, bin ich davon überzeugt, dass die Eigenschaft des Fahrwerks noch relevanter wird. Wenn man mit dem Auto mitfährt, ist man einfach viel empfindlicher insbesondere in Bezug auf den Fahrkomfort, als wenn man selber der Fahrer ist.“. Das, so Holdmann weiter, wisse jeder, der lieber Fahrer als Beifahrer ist.
Hand aufs Herz: Wer von uns, die wir uns selbst für gute Autofahrer halten, ist gerne Beifahrer? Oder wem gelingt es, sich in ein Buch zu vertiefen, wenn jemand anderes fährt? Beim autonomen Fahren aber wird jeder zum Beifahrer. Da gebe es dann schon Möglichkeiten, sich über das Fahrwerk zu differenzieren – „gerade bei den vertikaldynamischen Aktuatoriken“, weiß der ZF Experte und unterstreicht die seiner Meinung nach einzigartige Position von ZF.
Fahrdynamik aus einer Hand
„Wir sind der einzige Automobilzulieferer, der sämtliche Aktuatoren im Fahrwerk im Portfolio hat, das heißt wir können alle drei Dimensionen der Mechanik beeinflussen – die Quer-, die Längs- und die Vertikaldynamik. In der Vergangenheit sind das Einzelsysteme gewesen – man denke an Bremse, Lenkung, Federung, Dämpfung, Hinterradlenkung, Wankstabilisierung und zukünftig gilt es natürlich auch, an den elektrischen Antrieb zu denken.
„Da wir als ZF diese Aktuatorik komplett bei uns im Haus haben, sehen wir uns in der Position, dass wir durch die Kombination der Aktuatoren zu neuen Funktionen kommen können – andere Funktionen, die insgesamt das Fahrverhalten eines Fahrzeugs verbessern und entwickeln können“, berichtet der promovierte Fahrzeugtechniker. Das entspreche der unternehmensinternen Zielsetzung, weshalb die gesamte Fahrwerkkompetenz der ZF in einem Systemhaus namens „Vehicle Motion Control“ zusammengefasst sei.
Die Koordination zwischen den Aktuatoren und den AD-Funktionen (Autonomous Driving) übernimmt cubiX, die von ZF inhouse entwickelte Software, die das Entwicklungsteam von Holdmann im Augenblick auch weiterentwickelt. Das smarte Steuerungssystem erlaube eine optimal angepasste Reaktion auf jede Fahrsituation. „Das ist quasi eine übergeordnete Regelsoftware für sämtliche Aktuatoriken im Chassis.
ZF kann vollautonom – dank cubiX
cubiX ist es letztlich egal, ob es ein Soll-Signal von einem Fahrer bekommt, dem das Auto zu folgen hat, oder ob es dieses Soll-Signal von einem Rechner bekommt, der ein autonom fahrendes Fahrzeug bewegt“, beschreibt der 50 Jahre alte Fahrwerkspezialist die Abstimmungsabläufe mit cubiX. Natürlich richte ZF das System auf autonomes Fahren aus, um irgendwann in der Lage zu sein, „vollautonom fahrende Fahrzeuge mit unseren Aktuatoriken optimal bedienen zu können. Dafür steht unsere Software.“
Das Konzernthema See, Think, Act läuft in punkto Fahrwerktechnik so ab: See ist das Autonomous Driving über die Sensorik, wie zum Beispiel im Bereich Lidar, Radar und Kameras. Der Think Part obliegt dem Zentralrechner sowie der Steuerungssoftware cubiX. Act, wie Aktion, fällt den Aktuatoren zu, wie beispielsweise dem Bereich Fahrwerk das AKC (Active Kinematics Control) order ERC (Electromechanical Roll Control, elektromechanische WAnkstabilisierung).
Es geht nicht nur um Fahrkomfort
„Am Ende geht es nicht nur um Fahrkomfort“, betont Holdmann. „Fahrverhalten setzt sich ja aus Fahrkomfort und Fahrdynamik zusammen, also aus der Quer- und Längsdynamik.“ Der Aspekt der Dynamik ist ihm dabei sehr wichtig: „Wir sind davon überzeugt, dass die Fahrdynamik auch zukünftig eine Rolle spielen wird.“ Nach der Auffassung von ZF soll Fahren auch künftig Freude machen. Holdmann zitiert dabei den Ausspruch von Konzernchef Scheider, der nicht nur auf der IAA klar verkündet, dass Askese nicht die Antwort sein könne.
Nicht zuletzt für diese Fahrfreude arbeiten Holdmann und seine Kollegen. „Wir arbeiten in alle dynamischen Richtungen an neuen technischen Lösungen“, verspricht er. Der Flying Carpet 2.0 stelle dabei den Fahrkomfort der Insassen in den Mittelpunkt. Daher das Bild des ruhig dahingleitenden Teppichs. Dieser Komfort des Dahingleitens werde über die vollaktive ZF-Dämpfung und das vollaktive Fahrwerk sMotion realisiert.. „Durch eine Hydraulikpumpe können wir den Dämpfer aktiv und individuell verstellen. Wir könnten das Auto auch tanzen lassen“, sagt er schmunzelnd.
Flying Carpet 2.0
Beim Flying Carpet 2.0, der die Insassen von störenden Fahrzeugbewegungen entkoppeln, Kurven ausgleichen kann und dies bei Bodenwellen und Schlaglöchern sogar vorausschauend kann, nutzt ZF die vernetzt innovative Sensorik und intelligente Aktuatorik. Das ganzheitliche System hat dank cubiX die Möglichkeit, „das Fahrwerk stärker zu parametrisieren als bisher“, erklärt Holdmann. Im Flying Carpet ist so eine viel größere Spreizung der Fahrmodi möglich.
Die Voraussetzungen seitens des Fahrwerks sind da: Mit cubiX und sMotion an Bord steht dem autonom dahingleitenden Wohn- oder Bürozimmer rein fahrzeugtechnisch nichts mehr im Wege. Ob mit oder ohne menschlichen Fahrer, mit dem vollaktiven Dämpfungssystem und Herzstück des Fahrwerkkonzeptes sMotion zusammen mit dem smarten Steuerungssystem cubiX weiß dieser Verbund laut Holdmann eine optimale Antwort und Reaktion auf jede Fahrsituation.
Vertretbares Kosten-Nutzen-Verhältnis nötig
Natürlich entsteht ein solch nuanciertes Gesamtkonzept nicht schlagartig. „Wir beschäftigen uns schon länger mit diesen aktiven Systemen und versuchen vor allem, den idealen Kompromiss zu finden“, erläutert der ZF Experte. Mit Kompromiss ist ein vertretbares Kosten-Nutzen Verhältnis gemeint. „Sie werden nicht viele Kunden finden, die bereit sind einen viertstelligen Betrag für dieses fein nuancierbare Fahrverhalten aufzubringen“, weiß er aus Erfahrung. Klar ist somit: Das ZF System wird letztendlich deutlich weniger kosten. Das ist entscheidend, um das Produkt bei verschiedenen Herstellern skalieren zu können.
Zudem gebe es derzeit im Markt sehr viele vertikaldynamische Systeme, die auf das Wank- und Nickverhalten des Fahrzeugs Einfluss nehmen. Um so wichtiger sind höchstmögliche Kompetenz und Differenzierung. Ein wichtiger Mosaikstein dürfte für Holdmanns Systemhaus darum die erhoffte Akquise von Wabco werden, die noch vom Okay durch die Kartellbehörde abhängt.
Wabco bedient auch das Pkw Segment
Bei den Friedrichshafenern steht der Kauf des US-amerikanischen Zulieferers Wabco unmittelbar bevor. Der hauptsächlich auf Nutzfahrzeuge ausgerichtete Anbieter von elekronischen Brems- und Fahrzeugsystemen, der allen Einschätzungen nach bis Anfang oder Ende des ersten Quartals 2020 in ZF Hände übergehen soll, verfügt auch über eine kleine Pkw-Einheit, die unter anderem Kompressoren für die Luftfederung und Unterdruckpumpen für Bremssysteme herstellt. Dieser potentielle Zuwachs wird dem ZF Systemhaus Vehicle Motion Control weitere Optionen zur Vebesserung des Fahrverhaltens ermöglichen.
Welchen Beitrag also leistet das Systemhaus Fahrwerktechnik beim Thema Sicherheit, dessen weitere Verbesserung sich ZF als großes Ziel auf die Fahne geschrieben hat? „Fahrsicherheit realisieren Sie natürlich über verschiedenste Elemente, dazu gehört auch ein vernünftiger Fahrkomfort“, sagt Holdmann. Wenn man die ganze Zeit durchgerüttelt werde, werde es auf Dauer naturgemäß schwierig, fahrsicher zu bleiben. „Aber dazu gehören natürlich auch gute Fahrwerksysteme, um das Fahrzeug sicher bewegen zu können.“ Man denke nur an ESP, das mittlerweile alle Autos unabhängig von der Fahrzeugkategorie haben.