«Für Vision Zero bedarf es einer hochkomplexen Vernetzung»

ZF forscht an neuen Sicherheitskonzepten

«Für Vision Zero bedarf es einer hochkomplexen Vernetzung»
Ein externer Pre-Crash Airbag absorbiert beim Seitenaufprall die Energie. © ZF

Selbstfahrende Fahrzeuge erfordern für die Insassen neue Sicherheitskonzepte. Der Zulieferer ZF arbeitet deshalb an neuen Gurt- und Airbagfunktionen.

Autonome Fahrzeuge sollen das Autofahren sicherer machen. Im Idealfall sollen sie zu einer Unfallfreiheit führen, der Vision Zero. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Für die Hersteller als auch für die Zulieferer ergeben sich auf dem Weg zum vollautonomen Fahren ganz neue Herausforderungen. So darf der Fahrer bereits bei Fahrzeugen der Automatisierungsstufe 3 seine Aufmerksamkeit vorübergehend auf andere Dinge richten als den Straßenverkehr.

Neue Innenräume, neue Sicherheitskonzepte

„Das wird sich auch im Innenraum widerspiegeln, etwa durch flexiblere Interieurs. Wir arbeiten deswegen an neuen intelligenteren Sicherheitskonzepten wie zum Beispiel neuen Airbag- und Gurtfunktionen, die solchen Situationen angepasst sind“, sagte Martin Seyffert, der beim Zulieferer ZF im Bereich Integrated Safety & Advanced Technologies arbeitet, im Interview mit der Autogazette.

Bis das auch vom Friedrichshafener Unternehmen verfolgte Ziel von Vision Zero erreicht wird, wird es aber noch dauern. “Für die Vision Zero bedarf es einer hochkomplexen Vernetzung und länderübergreifender Verkehrskonzepte. Es wird für die Politik eine große Aufgabe sein, dies schnell umzusetzen. In der EU gibt es dazu bereits Diskussionen“, sagte Thomas Mach, der bei ZF Projektleiter Systemintegration Testfahrzeuge ist.

„Wir arbeiten an neuen Airbag- und Sicherheitsfunktionen“

Das Behicle bei der Seitencrash-Simulation.
Sicherheit in einem Kleinstfahrzeug ZF

Autogazette: Ab wann wird es notwendig sein, Sicherheitssysteme für das autonome Fahren anzubieten? Schon ab Level 4 oder erst ab Level 5?

Martin Seyffert: Sicherheitssysteme wurden bisher für Fahrzeuge ohne Automatisierung oder auch mit Level 1 oder -2 entwickelt. Aber bereits in Level-3-Fahrzeugen, die kurz vor der Einführung stehen, darf der Fahrer seine Aufmerksamkeit vorübergehend auf andere Dinge richten. Das wird sich auch im Innenraum widerspiegeln, etwa durch flexiblere Interieurs. Wir arbeiten deswegen an neuen intelligenteren Sicherheitskonzepten wie zum Beispiel neuen Airbag- und Gurtfunktionen, die solchen Situationen angepasst sind.

Autogazette: Die Herausforderungen für Sie dürften mit Blick auf die Unterschiede zwischen Level 2 und Level 3 indes nicht allzu groß sein. Oder täuscht das?

Seyffert: Die Herausforderungen für uns als Zulieferer hängen mit den Absichten des jeweiligen Fahrzeugherstellers zusammen. Will er dem Fahrer mehr Freiräume in der Bewegung zugestehen als bisher? Wenn ja, in welchem Maß? Das wird bei Level 3 der Knackpunkt sein, gerade im Hinblick auf die geringe Übergabezeit zwischen Mensch und Autopilot.

Autogazette: Hersteller wie Ford oder auch Volvo wollen Level-4-Fahrzeuge bereits 2021 auf den Markt bringen. Auf welchen Zeitraum richten Sie die Entwicklung der dafür benötigten Sicherheitssysteme aus?

Seyffert: Unser Ziel ist es, den Straßenverkehr so sicher wie möglich zu machen. Dabei unterstützen wir die Hersteller in ihren Planungen mit unseren eigenen Entwicklungsprogrammen.

„Stückzahlen abzuschätzen ist nicht so einfach“

Autogazette: Mit welchen Stückzahlen planen Sie? Zunächst nur mit homöopathischen Mengen?

Seyffert: Stückzahlen abzuschätzen ist aus heutiger Sicht nicht so einfach. Das hängt nicht zuletzt von den Ausstattungsraten ab. Wir erwarten aber durchaus Fahrzeuge aus den Volumensegmenten.

Autogazette: Was unterscheidet ein Level-4-Fahrzeug mit Blick auf die Sicherheitssysteme von einem heutigen Fahrzeug?

Seyffert: Ein Level-4-Fahrzeug wird dem Fahrer einen deutlich größeren Bewegungsfreiraum anbieten als bisherige Fahrzeuge. Dieser soll eine erweiterte Nutzung des Fahrzeugs für Arbeit und Entspannung erlauben. Entsprechend sind andere und bequemere Positionen angestrebt. Dabei wird zum Beispiel der Sitz weiter nach hinten geschoben und die Lehne gegebenenfalls etwas flacher gestellt. E-Automobile, die keinen Mitteltunnel mehr besitzen, eröffnen außerdem die Möglichkeit, den Sitz zu drehen, um eine Unterhaltung mit dem Sitznachbarn zu unterstützen. Neue Sicherheitssysteme müssen diesen veränderten Situationen im Innenraum Rechnung tragen.

Autogazette: Es wird ein Sitzkonzept sein, wie ZF es zusammen Faurecia auf der IAA vorgestellt haben...

Seyffert: ...genau, dieses gemeinsame Konzept trägt bereits viele der Ansätze, zum Beispiel lässt sich der Sitz bis zu einem gewissen Grad um die Hochachse drehen.

„Dieser Mischverkehr muss mit berücksichtigt werden“

Das Sitzkonzept von ZF und Faurecia.
Der neue Sitz von ZF und Faurecia ZF

Autogazette: Wie schwierig ist es, etwas zu entwickeln, von dem Sie zum einen nicht wissen, wann es wirklich kommen wird und vor allem welche gesetzlichen Vorschriften es dafür geben wird? Sie müssen quasi ins Blaue hinein entwickeln.

Seyffert: Wesentliche Herausforderungen des Insassenschutzes kennen wir schon heute. Den Sitz zurückzufahren zum Beispiel, ihn zu drehen oder ihn gegebenenfalls in eine Liegeposition zu bringen. Wir wissen, dass das Lenkrad zurückgefahren werden kann oder gegebenenfalls faltbar oder gar verstaubar gestaltet wird. Daraus leiten wir Anforderungen für unsere Entwicklung von Sicherheitssystemen ab.

Autogazette: Werden sich die Anforderungen an den Crashtest nicht irgendwann, spätestens mit Level 5, überholen?

Seyffert: ZF verfolgt die „Vision Zero“, der Vision einer Mobilität ohne Unfälle und ohne Emissionen. Auf dem Weg dahin müssen wir aber weiterhin mit Unfällen rechnen. Fahrzeuge ohne Level 5 Automatisierung wird es noch lange geben und zudem kommen Ereignisse hinzu, wie zum Beispiel Wildunfälle, die mit einer Fahrautomatisierung alleine nicht vermieden werden können. Daher müssen wir auch morgen noch Unfallszenarien abdecken.

Autogazette: Die Herausforderung liegt darin, dass Fahrzeuge mit heutiger Zulassung heute auch noch in zehn Jahren auf der Straße sind.

Thomas Mach: Natürlich muss dieser Mischverkehr, auch der länderübergreifende Verkehr, mit berücksichtigt werden.

Autogazette: Genau. Deshalb scheint das von Volvo genannte Ziel von Vision Zero ab dem Jahr 2021 doch unrealistisch.

Mach: Für die Vision Zero bedarf es einer hochkomplexen Vernetzung und länderübergreifender Verkehrskonzepte. Es wird für die Politik eine große Aufgabe sein, dies schnell umzusetzen. In der EU gibt es dazu bereits Diskussionen.

„Haben einen anspruchsvollen Weg vor uns“

Autogazette: Vor diesem Hintergrund wagen Sie auch keine Angabe eines Zeitrahmens für das Erreichen des Ziels Vision Zero.

Seyffert: Bis zum Ziel zur Vermeidung von Unfällen im Verkehr haben wir einen anspruchsvollen Weg vor uns. Etappensiege haben wir dank unserer fortschrittlichen Technologien und Ansätze aber schon jetzt erreicht. Indem wir Autos sehen, denken und handeln lassen, können wir viele Unfallursachen bereits umgehen und vermeiden. Trotzdem wird es immer wieder zu Sonderfällen kommen. Es wird nicht den einen Schritt geben, ab welchem der Verkehr auf einmal unfallfrei ist. Es ist ein Weg – aber einer, den wir nach allen Kräften vorantreiben.

Autogazette: Gibt es bei Ihnen im Hause Modellrechnungen, dass die von ihnen entwickelten Sicherheitssysteme die Unfälle um die Prozentzahl xy reduziert?

Seyffert: Derartige Simulationen müssten die Crashparameter konkret vorhersagen. Das ist schwierig. Doch wir wissen, dass wir mit einem automatisierten Fahrzeug im Idealfall einen Crash vermeiden können. Sollte es doch zum Unfall kommen, können wir die Folgen zumindest abmildern. Es geht hier um die Gegenüberstellung des Automaten mit der Effizienz des Menschen. Die Erwartungshaltung ist indes, dass zum Beispiel die Unaufmerksamkeit, die dem Menschen zugeschrieben wird, vermieden wird. Damit sollte sich die Zahl der darauf zurückzuführenden Unfälle reduzieren lassen. Da es aber nicht nur diesen einen Faktor bei den Unfallursachen gibt, sondern eine Vielzahl, bleibt abzuwarten, wie sich die Zahl und Art der Unfälle mit steigendem Anteil von automatisierten Fahrzeugen tatsächlich entwickeln wird.

„Eine Liegeposition ist schwierig abzusichern“

Innenraum im Mercedes F 015.
Innenraum im Forschungsfahrzeug Mercedes F015 Daimler

Autogazette: Der Innenraum der Zukunft verfügt über Sitze, die entgegen der Fahrtrichtung positioniert sind oder auf denen der Fahrer sogar liegt. Kann man Passagiere so überhaupt vernünftig schützen?

Seyffert: Aus heutiger Sicht ist eine Liegeposition äußerst schwierig abzusichern. Wir arbeiten natürlich daran, auch für solche Positionen einen adäquaten Schutz zu finden. Im Sinne der vorausschauenden Sicherheit haben wir zum Beispiel die Möglichkeit einer Intervention vor dem Crash. Das erklärte Ziel ist, auch für solche Positionen Maßnahmen zu entwickeln.

Autogazette: Gibt es Situationen mit dem Wissen von heute, von denen Sie sagen: Hier ist kein Schutz möglich?

Seyffert: Zukünftig soll der Fahrzeuginnenraum vermehrt als Lebensraum genutzt werden. Das bringt neue Anforderungen mit sich: Was ist zum Beispiel mit mitgebrachten Objekten im Innenraum? Wie wird verhindert, dass sie im Crash durch den Innenraum fliegen? Natürlich kann man Objekte wie zum Beispiel einen Laptop sichern. Das setzt aber voraus, dass der Innenraum nicht missinterpretiert wird. Ein Fahrzeuginnenraum ist nun einmal kein Lebensraum wie zu Hause, der voll von ungesicherten Objekten ist. Diese haben in einem Auto nichts verloren und würden im Auto ein Risikopotential darstellen.

"Es ist richtig, Sitzsysteme sitzzentriert zu machen"

Der Center Airbag von ZF
Der Center Airbag von ZF ZF

Autogazette: ZF arbeitet derzeit am Center Airbag. Ist das ein Konzept, das bereits für das autonome Fahren zum Einsatz kommen kann?

Seyffert: Ja, denn wir gehen davon aus, dass sich bei einem autonom fahrenden Auto sowohl Sitz als auch Insasse bewegen werden. Es ist also richtig, Sicherheitssysteme sitzzentriert zu machen. Das ist eines der Argumente für eine strategische Partnerschaft mit Faurecia als Sitzhersteller.

Autogazette: Der Sicherheitsgurt, der heute an der B-Säule befestigt ist, gehört also der Vergangenheit an?

Mach: Ja, wir gehen davon aus, dass bei Fahrzeugen, die vom manuellen Fahren bis zum automatischen Fahren betrieben werden können, das Gurtsystem in den Sitz wandern wird, um so eine größere Bewegungsfreiheit zu gewährleisten. Schaut man sich beispielsweise das derzeitige Gurtschloss an, so ist es seit Jahren ein typisches Anbauteil am Sitz. Doch das ändert sich ebenso, weil es in den Sitz integriert werden muss. Unser Active Buckle-Lifter steigert beispielsweise deutlich den Komfort und fährt in der Gefahrensituation das Schloss zudem noch nach unten und entfernt sogenannte Gurtlose aus dem Beckenbereich.

Autogazette: Was wird der nächste große Schritt bei der Sicherheit sein?

Seyffert: Auch hier gilt wieder, dass es nicht den einen großen Schritt gibt, sondern viele einzelne, die in Folge aber einen Weg ergeben. Adaptive Lösungen und Pre-crash Interventionen gehören aber sicherlich zu den wichtigen großen Schritten. Nehmen wir zum Beispiel den außenliegenden Airbag für die Fahrzeugseite. Er puffert den Aufprall des von außen auf die Fahrzeugseite auftreffen Objektes ab. Also zum Beispiel den eines anderen Fahrzeugs. Konsequenterweise muss der Airbag vor dem Aufprall entfaltet werden. Solche Pre-Crash Maßnahmen müssen allerdings sehr hohe Sicherheitsstandards erfüllen.

Mach: Neben dem Schutz vor dem Seitencrash spielt mit Blick auf das autonome Fahren – wie wir es bei unserem Vision Zero Vehicle zeigen – die haptische Warnung am Gurtsystem für die Übergangsszenarien vom manuellen zum automatisierten Fahren eine große Rolle. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Fahrer darüber zu informieren, wann er wieder die Kontrolle übernehmen soll: Die einen machen es über akustische oder visuelle Signale, doch das wird teilweise nicht mehr wahrgenommen. Deshalb bieten wir als weitere Option die haptische Warnung über das Gurtsystem an. Auch der Innenraum-sensierung fällt eine zunehmend wichtigere Rolle zu. Wo und wie sitzen die Passagiere? Dies muss mit Blick auf das autonome Fahren klar erkannt werden.

Das Interview mit Martin Seyffert und Thomas Mach führte Frank Mertens

ZF auf der IAA 2017

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