Die windschnittige Karosse, der geringe Fahrwiderstand, niedrige CO2-Emissionen sind längst nicht die einzigen Faktoren, die Aerodynamiker zu berücksichtigen haben. Wo verläuft künftig die Kompromisslinie auf der Suche nach einem niedrigen Cw-Wert für jedes Modell?
Von Martin Woldt
Ob es um die Größe der Räder, die Proportionierung des Kofferbodens, die Durchströmung des Motorraumes, die Position der Scheinwerfer oder der Rückspiegel, den Ablauf des Schmutzwassers oder gar die Spurtreue geht, die Aerodynamik ist immer im Boot. Sie ist eine echte Querschnittsdisziplin der Fahrzeugentwicklung, die mehr als eine windschnittige Karosse mit im Blick haben muss. Erklärtermaßen wächst ihr Stellenwert bei der Verminderung des Fahrwiderstandes, der Verbrauchsreduzierung und CO2-Reduktion. Aber wächst damit womöglich auch der Zwang, die zahlreichen Nebenaspekte der Aerodynamik hinten an zustellen?
"Nein", sagt Prof. Jochen Wiedemann, Vorstand des Forschungsinstituts für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart (FKFS), "eine Gefahr in dem Sinne kann ich in der Entwicklung nicht erkennen." Das wüssten die Entwickler heute alles. Wenngleich der Zielkonflikt zwischen Aerodynamik und Fahrstabilität natürlich vorhanden ist. Die Autoindustrie hätte in diesem Punkt durchaus eine historische Lernkurve gehabt. Wiedemann verweist auf den historischen Präzedenzfall von 1938. Damals verunglückte der Rennfahrer Bernd Rosemeyer auf der Jagd nach einem Geschwindigkeitsweltrekord bei über 430 km/h durch eine Seitenwindattacke tödlich.
Die Anfälligkeit für Seitenwind
"Wenn vollverkleidete Stromlinienfahrzeugen unter Seitenwind geraten, reißt die Strömung nicht ab und es bauen sich große Querkräfte auf", erklärt Wiedemann die aerodynamischen Zusammenhänge. Mit zunehmender Fahrgeschwindigkeit würde ein Fahrzeug durch den Auftrieb immer leichter, der Fahrbahnkontakt schwindet. Grundsätzlich wären so geformte Karossen seitenwindanfälliger als andere mit kantigen Kühlern oder Scheinwerfern. "Dieser Seitenwind war früher mal ein echtes Sicherheitsproblem, wenn man beispielsweise an alte Käfer oder den VW Bulli denkt. Da brauchte man mitunter die ganze Straßenbreite", sagt Wiedemann.
Und er erinnert an die Einführung des Audi TT vor über zehn Jahren, dessen erste Generation in speziellen Situationen aerodynamische Schwächen offenbarte. Beim Abbremsen aus sehr hohen Geschwindigkeiten bekam das Fahrzeug zu viel Auftrieb an der Hinterachse, was zu einigen, sogar tödlichen Unfällen führte. Wie der Spiegel damals berichtete, erhielt das Fahrzeug infolge der Ereignisse straffere Dämpfer, Stabilisatoren und einen Heckspoiler, auf den man anfangs aus Designgründen verzichtet hatte.
Neue Kompromisse und Möglichkeiten
Heute ist das Ganze vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen eher ein Komfortproblem. Entwicklungsziel sei Fahrstabilität, "die dem Fahrer das Gefühl vermittelt, er hat das Ganze im Griff und er muss wenig korrigieren", sagt Wiedemann. Bei Volkswagen etwa definieren die Fahrwerksspezialisten für jedes neue Modell Auftriebsgrenzwerte, die den Spielraum für die Aerodynamiker vorgeben. Gleichwohl gibt es keine starren Kompromisslinien. Jochen Wiedemann verweist auf inzwischen vorhandene technische Hilfen, der Aerodynamik gerecht zu werden. So korrigiere etwa der Seitenwindassistent in der S-Klasse von Mercedes plötzlich auftretende Querkräfte. Die bei Volkswagen im Einsatz befindliche elektromechanische Servolenkung registriere stetiges Gegenlenken und kompensiert durch eine angepasste Lenkunterstützung den Seitenwind. Doch das macht die Aerodynamik natürlich teurer.
"Vor Jahren war Volkswagen eine Cw-Wert-Verbesserung die Summe X wert", beschreibt VW-Chefaerodynamiker Alexander Wittmaier, die verschobenen Prioritäten. „Heute ist der Wert größer. Der Stellenwert der Aerodynamik im Haus ist massiv gestiegen." Daraus ergeben sich zum Beispiel auch zwischen Aerodynamik und Aggregatekühlung veränderte Kompromisslinien. Früher wären beim Einsatz eines zu kühlenden Hochleistungsmotors die Fahrzeugöffnungen vorn vielleicht zulasten der Aerodynamik vergrößert worden. Heute kommt ein leistungsfähigerer, wenn auch teurerer Kühler infrage.
Anforderungen an den VW Golf VIII
Die Grenzen der aerodynamischen Änderungsmöglichkeiten sieht Wittmaier im definierten Kundennutzen beispielsweise für einen VW Golf. "Man muss gut einsteigen können, man muss gut rundum blicken können, man muss hinten bequem sitzen können, es muss ein vollwertiges komfortables Fahrzeug sein", sagt er. So sei auch nicht zu erwarten, dass das künftige Design dem aerodynamisch fokussierten VW XL1 zu extrem nacheifert. Gleichwohl sei die schon formulierte Aufgabe für den nächsten Golf, den aktuellen Cw-Wert von 0,27 noch mal zu unterbieten.. Gegenwärtig gingen die Überlegungen in Richtung aktiver aerodynamischer Systeme wie verschließbarer Kühlerjalousien und anderer Techniken.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Entwicklung der aerodynamischen Kompromisslinien naturgemäß weniger vorherbestimmt, auch der Stellenwert der Aerodynamik nicht in Stein gemeißelt. Sollte Kraftstoff, wie etwa Erdgas gegenwärtig in den USA, noch mal sehr viel günstiger werden, könnten die gegenwärtigen Anstrengungen auch schnell wieder nachlassen. "Das kommt immer auf das Szenario an, in dem wir uns bewegen", sagt Jochen Wiedemann. Sollte Kraftstoff sehr viel teurer werden, brechen irgendwann auch Grundsätze zusammen. "Dann kommt es vielleicht nicht mehr so sehr darauf an, ob man noch gut ins Fahrzeug einsteigen kann. Vielleicht wird sogar eine Klimaanlage wieder verzichtbar", vermutet er. Dann wären auch Autos mit einem Cw-Wert unterhalb von 0,20 denkbar, der jetzt noch vielen Entwicklern als Grenze des Machbaren erscheint.