Volvo-Entwicklungsvorstand Peter Mertens ist gelassen, wenn man ihn auf die Konkurrenz mit Mercedes und Audi beim autonomen Fahren anspricht. Er sieht die Schweden aus einer Vielzahl von Gründen bei dieser Technologie in der Führungsrolle, wie der Manager der Autogazette sagte.
Der schwedische Autobauer Volvo sieht sich beim autonomen Fahren trotz der starken Konkurrenz von Audi, BMW und Mercedes klar in der Führungsrolle. «Volvo hat gerade das sicherste SUV der Welt vorgestellt. Das schafft uns eine gute Ausgangsposition, um die Führungsrolle zu beanspruchen», sagte Volvo-Entwicklungsvorstand Peter Mertens im Interview mit der Autogazette.
«Drive Me-Projekt bildet die Realität ab»
Mertens sieht Volvo insbesondere aufgrund der Unterstützung der schwedischen Behörden bei dieser Technologie in der Führungsrolle. «Wir haben Möglichkeiten, die andere nicht haben», sagte der Manager mit Blick auf das so genannte Drive Me-Projekt, bei dem der Autobauer ab Ende 2017 auf der Göteborger Stadtautobahn 100 Volvos autonom fahren lässt. «Wir messen diesem Pilotprojekt einen großen Stellenwert bei, weil hier der Unterschied zu unseren Wettbewerbern liegt, die einmal ein Auto von A nach B fahren lassen.»
Mit den richtigen GPS-Daten und einem guten Kartenmaterial sei so etwas «nicht wirklich kompliziert», wie Mertens sagte. «Unser Drive Me-Projekt bildet indes mit 100 Fahrzeugen die Realität ab. Hier können wir lernen, wie die Fahrer und die Fahrzeuge um einen herum reagieren. Wir können sehen, welchen Einfluss die Infrastruktur hat.»
«Autonomes Fahren ist unser Vehikel»
Autogazette: Herr Mertens, Google-Chef Sergey Brin ließ unlängst wissen, dass man sich für sein autonom fahrendes Auto einen Produktionspartner vorstellen könnte. Haben Sie schon bei Google angerufen?
Peter Mertens: (lacht) Nein, habe ich nicht. Denn Google und Volvo haben unterschiedliche Herangehensweisen beim autonomen Fahren. Wir werden von unserer Vision 2020 getrieben, bis zu diesem Zeitpunkt soll es bei Unfällen keine Schwerverletzten oder sogar Getötete in einem Volvo mehr geben. Das autonome Fahren ist dafür unser Vehikel.
Autogazette: Ist die Vision 2020 nur mit autonomen Fahrfunktionen erreichbar?
Mertens: Nein, dafür bedarf es intelligenter Fahrassistenzsysteme. Wenn wir vom vollautonomen Fahren reden, werden wir dieses Ziel ohnehin erst deutlich nach dem Jahr 2020 erreichen. Aber natürlich nutzen wir bereits heute teilautonome Assistenzsysteme, um unserem Ziel näher zu kommen.
Autogazette: Sie nähern sich diesem Ziel also in vielen Teilschritten an?
Mertens: Genau, auf dem Weg zum vollautonomen Fahren erleben wir nicht den einen großen Schritt, sondern viele Teilschritte. Es gibt beim autonomen Fahren eine Evolution, keine Revolution.
«Halte nichts davon, utopische Zahlen zu definieren»
Autogazette: Ab wann wird Volvo in der Lage sein, ein vollautonom fahrendes Fahrzeug anbieten zu können?
Mertens: Der neue Volvo XC90 erlaubt bereits dort teilautonomes Fahren, wo die Unfallhäufigkeit sehr groß ist: nämlich im Stop-and-Go-Verkehr. Hier kann man die Geschwindigkeit zwar noch anheben, aber ich halte nichts davon, irgendwelche utopischen Zahlen wie 200 km/h zu definieren. Bis wir beim vollautonomen Fahren in allen Bereichen und unter allen Bedingungen angekommen sind, wird es mindestens noch zehn bis 15 Jahre dauern.
Autogazette: Die Systeme sind also weit von der Serienreife entfernt ...
Mertens: ... ja, und wir werden die Systeme erst dann bringen, wenn sie besser sind als ein guter Autofahrer. Wir müssen den Menschen dort unterstützen, wo er Fehler macht. Zudem müssen wir die Stärken von Fahrer und System miteinander verbinden, um das Optimum an Sicherheit zu erreichen. Doch das geht nur mit einem lernenden System, doch das gibt es noch nicht. Noch werden die Systeme von einigen Unwägbarkeiten überfordert.
«Die hohe Kunst ist es, in der Innenstadt unterwegs zu sein»
Autogazette: Doch Systeme reagieren schneller als Menschen ...
Mertens: ... ja. Menschen sind sehr gut darin, Situationen wahrzunehmen, aber sie sind schlecht darin, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn sie sie aber ziehen, sind sie zu langsam, sie auch umzusetzen. Hier ist das System weitaus besser.
Autogazette: In Zukunft wird bei Volvo der Fahrer also weiter hinter dem Steuer sitzen und kein Nickerchen auf der Rückbank halten?
Mertens: In der Langfristplanung kann ich mir so etwas vorstellen, in den nächsten 15 Jahren aber nicht. Auf der Autobahn von F nach E zu fahren und sich dabei auf die Rückbank zu legen, ist ja nicht die hohe Kunst. Die hohe Kunst ist es, in der Innenstadt unterwegs zu sein und dort alle Einflussparameter wie Fahrradfahrer oder Fußgänger richtig zu erkennen. Hier sehe ich Volvo in der Führungsrolle.
Autogazette: Was sagen Sie zu dem von Google vorgestellten autonom fahrenden Fahrzeug, das ohne Lenkrad, Gas- und Bremspedal auskommt? Ist der IT-Gigant hier weiter als die Autobauer?
Mertens: Wir nehmen das zur Kenntnis. Doch ich glaube nicht, dass das ein ernsthafter Versuch ist, ein Auto auf die Straße zu bringen. Das ist eher etwas für den rein innerstädtischen Bereich, vielleicht als Ersatz für Busse oder Taxis.
«Autofahren kann nach wie vor viel Spaß machen»
Autogazette: Ist für Sie ein Fahrzeug ohne Lenkrad und Gas- und Bremspedal vorstellbar?
Mertens: In absehbarer Zeit nicht. Ich würde mir persönlich auch den Spaß nicht nehmen lassen wollen, selbst Auto zu fahren. Denn Autofahren kann nach wie vor viel Spaß machen.
Autogazette: Gibt es etwas, was Sie von Google lernen können?
Mertens: Nein, das sehe ich bisher nicht. Wer Sensoren mit Kosten von zig tausenden von Euro auf einem Fahrzeug einsetzt, der bietet kein alltagstaugliches Konzept.
Autogazette: Im neuen Volvo XC90 haben Sie gerade den Staupiloten vorgestellt. Was sind die nächsten Teilschritte, die auf dem Weg vom teilautonomen, über das hochautonome bis hin zum vollautonomen Fahrzeug folgen werden?
Mertens: Der neue XC 90 hat bereits einen Abbiegeassistenten, der entgegenkommenden Verkehr erkennt und darauf reagiert und den Fahrer zunächst warnt und dann bremst. Weitere Entwicklungsschritte werden vor allem bei seitlichen Bewegungen kommen, für die wir eine 360 Grad Rundumsicht benötigen. Als nächsten Schritt kann ich mir ein vollautonomes Parken vorstellen.
Autogazette: Ab wann ist das vorstellbar?
Mertens: Ich gehe von drei Jahren aus, aber dafür bedarf es der richtigen Infrastruktur. So, wie wir heute bereits Umweltzonen in den Städten haben, wird es auch Sicherheitszonen geben, davon gehe ich aus.
«Daraus bauen wir eine Lerninsel»
Autogazette: Volvo startet sein Pilotprojekt Drive Me mit 100 autonom fahrenden Fahrzeugen Ende 2017, Anfang 2018 in Göteborg. Ist das der letzte Schritt vor der Marktreife?
Mertens: Wir messen diesem Pilotprojekt einen großen Stellenwert bei, weil hier der Unterschied zu unseren Wettbewerbern liegt, die einmal ein Auto von A nach B fahren lassen. Mit den richtigen GPS-Daten und einem guten Kartenmaterial ist das nicht wirklich kompliziert. Unser Drive Me-Projekt bildet indes mit 100 Fahrzeugen die Realität ab. Hier können wir lernen, wie die Fahrer und die Fahrzeuge um einen herum reagieren. Wir können sehen, welchen Einfluss die Infrastruktur hat. Daraus bauen wir eine Lerninsel, um unsere Systeme zu verbessern, um dann in die Serienfertigung zu gehen.
Autogazette: Werden Sie das Projekt nur auf der Autobahn durchführen oder auch in der Stadt?
Mertens: Auch in der Stadt. Auf der Autobahn haben sie ein relativ geschlossenes System, bei dem es im Normalfall keine Fahrradfahrer oder Fußgänger gibt. Das Fahren auf der Autobahn ist auch anspruchsvoll, keine Frage, aber nicht vergleichbar mit der Fahrt in der Stadt, wo unzählige Szenarien existieren, die vom System zu berücksichtigen sind.
«Volvo hat gerade das sicherste SUV der Welt vorgestellt»
Autogazette: Daimler als auch Audi beanspruchen beim Autonomen Fahren die Führungsrolle. Sie auch?
Mertens: Wer am Ende die Nase vorn hat, wird man sehen. Ich fühle mich vor dem Hintergrund dessen, was wir bereits anzubieten haben und noch anbieten werden, mit Blick auf unsere Mitbewerber relativ entspannt. Volvo hat gerade das sicherste SUV der Welt vorgestellt. Das schafft uns eine gute Ausgangsposition, um die Führungsrolle zu beanspruchen.
Autogazette: Wie beeindruckt waren Sie von der autonomen Fahrt einer Mercedes S-Klasse im Vorjahr über mehr als 100 Kilometer?
Mertens: Mich hat vor allem die ausgezeichnete PR beeindruckt. Das war eine Meisterleistung, Kompliment.
Autogazette: Und technisch?
Mertens: Das ist teilweise schon beeindruckend, was das Team um Thomas Weber dort leistet. Aber diese Fahrt sollte man aus technischer Sicht nicht überbewerten.
Autogazette: Wie müssen wir uns im Jahr 2020 das Autofahren in einem Volvo vorstellen, bereits autonom?
Mertens: Bis dahin werden wir noch mehr Systeme im Einsatz haben, die auf Fehlverhalten und kritische Situationen reagieren. Ein heißes Thema ist sicher das Fahren auf der Landstraße, wo es keine Markierungen gibt, daran arbeiten wir mit Nachdruck.
«Wir haben Möglichkeiten, die andere nicht haben»
Autogazette: Wo liegt für die Hersteller das größte Problem auf dem Weg zum autonomen Fahren: ist es technischer oder gesetzlicher Art?
Mertens: Es ist technischer Art. Nachdem die Wiener Konvention für den Straßenverkehr modifiziert wurde, kann getan werden, was notwendig ist, auch wenn diese Regelung noch in die nationale Gesetzgebung übertragen werden muss. Ich habe jedoch große Sorge, dass wir mit verschiedenen nationalen Gesetzgebungen konfrontiert werden, so etwas wäre fatal. So einen Protektionismus darf es nicht geben. Bereits heute ist der Aufwand gigantisch, um die unterschiedlichsten gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen.
Autogazette: Ist man in Schweden mit Blick auf das Drive Me-Projekt weiter als andere Länder?
Mertens: Ja, das ist ein mutiger Schritt. Aufgrund der Unterstützung der schwedischen Behörden sehe ich Volvo beim Thema autonomes Fahren auch in der Führungsrolle. Wir haben Möglichkeiten, die andere nicht haben. Ein solches Projekt wäre kaum vorstellbar gewesen, wenn wir der Regierung Bilder von Zeitung lesenden Autofahrern gezeigt hätten. Es war wichtig, dass wir das klare Ziel kommuniziert haben, den Verkehr sicherer zu machen.
Autogazette: Was bereitet den Sensoren bzw. Radarsystemen im Auto derzeit die größten Probleme?
Mertens: Es fängt mit dem Erkennen von Situationen und deren Interpretation an. Hinzu kommen Licht- und Witterungsbedingungen, die noch hin und wieder Probleme bereiten. Die Analyse der unterschiedlichen Szenarien ist für das System noch schwierig - bislang zieht es noch nicht in jedem Fall die richtigen Schlüsse in der richtigen Reihenfolge.
Autogazette: Muss Fortschritt auch beim Kartenmaterial geschehen?
Mertens: Absolut, das ist eines der ganz großen Themen. Durch bislang noch nicht ausreichend gutes Kartenmaterial stehen wir vor vielen Problemen. Hier muss deutlich mehr getan werden. Wenn eine Strecke millimetergenau erfasst ist, dann ist das Fahren darauf keine große Herausforderung.
«Eher wird es geringere Deckungssummen geben»
Autogazette: Wie schätzen Sie die soziale Akzeptanz für das autonome Fahren ein?
Mertens: Das ist schwierig zu sagen. Derzeit ist es sicher noch kein Thema für die breite Masse. Doch die Akzeptanz für dieses Thema wird durch die Kommunikation geprägt – und da wecken Bilder mit einem auf der Rückbank sitzendem Fahrer die falschen Erwartungen. Das ist nicht der realistisch nächste Schritt.
Autogazette: Welche versicherungsrechtlichen Fragen müssen für das autonome Fahren geklärt werden? Bedarf es beispielsweise höherer Deckungssummen?
Mertens: Das Gegenteil ist der Fall, eher wird es geringere Deckungssummen geben. Denn das Autofahren wird sicherer. In verschiedenen Ländern bekommen bereits heute Volvo Fahrer, die ein Modell mit City-Safety-Funktion bewegen, deutliche Rabatte bei ihren Versicherern, weil sie weniger häufiger in Unfallsituationen verwickelt sind.
Autogazette: Bedarf es für das autonome Fahren aus Gründen der Haftung einer Blackbox?
Mertens: Ich kann das nicht abschließend beantworten, auch wenn ich davon ausgehe, dass so etwas kommen wird.
Autogazette: Datenschutz spielt für die Kunden eine immer wichtigere Rolle. Wie wollen Sie diesem Anspruch gerecht werden, wenn Sie das Auto zu einem fahrenden Computer machen?
Mertens: Das eine steht nicht im Widerspruch zum anderen. Der fahrende Computer kann Daten aufzeichnen, aber nur anonymisiert. Wir sind an keinen personifizierten Daten interessiert, sie sind zudem nicht Fahrzeugen oder Fahrern zuzuordnen. Sie gehören dem Fahrer des Fahrzeugs. Diese Grundregeln sind anzuerkennen.
Das Interview mit Peter Mertens führte Frank Mertens