Wenn die Zeit verrinnt

Fluch und Segen der Sicherheit

Die modernen Autos werden immer sicherer. Was den Rettungskräften bei einem schweren Unfall allerdings die Arbeit erheblich erschwert. Der ADAC will mit einem einfachen Vorschlag verlorene Zeit retten.

Von Martin Woldt
Wenn Sie das hier noch lesen können, haben Sie womöglich den gefährlichsten Tag des Jahres schon hinter sich. Christi Himmelfahrt wird von manchen Autofahrern in seiner Symbolik leider allzu stark auf sich bezogen. 2008 wurden 22 Menschen an diesem Tag bei Unfällen getötet und 303 schwer verletzt. Die Zahlenwerte stehen nicht nur in Beziehung mit dem an diesem Datum gern ausschweifenden Alkoholzuspruch. Sie sind auch abhängig davon, wie schnell Hilfe zur Stelle war, um eine erbarmungswürdige Seele aus ihrem Trümmerhaufen zu befreien. Denn erst dann kann sich ein Arzt um die geborstenen Gliedmaßen, gequetschten Organe, blutenden Wunden kümmern.

Eine kurze «Stunde»

Wer es innerhalb der «Golden Hour» (etwa 90 Minuten) noch bis zur Not-OP schafft, sagt eine medizinische Faustregel, hat Glück. Hat Chancen, selbst nach einem schweren Unfall dem Tod noch mal von der Schippe zu springen. Doch die «Stunde» ist kurz, allzu kurz. Aus Sicht der Retter vergehen 15 Minuten vom Unfall bis zum Eintreffen am Schauplatz. Die nächsten zehn Minuten gehören dem Sichten, Sichern und der Notversorgung. Zieht man eine weitere halbe Stunde für den Rücktransport ab, bleibt ein schmales Zeitfenster von etwa 30 Minuten, um ein eingeklemmtes Opfer aus dem Unfallauto zu retten.
Doch dieses Fenster wird immer kleiner.

Schwierige Befreiung

Verkehrsunfall Foto: dpa

Wie der ADAC gerade aus der Praxis seiner Luftrettung mitteilte, gibt es mittlerweile bei jedem fünften Unfall Probleme bei der technischen Rettung. Groteskerweise hingen sie damit zusammen, dass die Autos immer sicherer werden. Dr. Jörg Beneker, Oberarzt im Unfallkrankenhaus Berlin und selbst Rettungsflieger berichtet: «Genügte bei einem VW Passat vor zwölf Jahren noch ein Schnitt mit der Hydraulikschere, um einen Dachholm zu durchtrennen, muss das Gerät heute mindestens sechs Mal angesetzt werden.» Ein eingeklemmtes Unfallopfer herauszuholen, erfordere häufig, das komplette Dach zu entfernen. Die Beine aus den Pedalen zu befreien, verlange nicht selten, die Karosse so aufzutrennen, um den Vorderwagen abklappen zu können. Eingriffe in den stabilsten Bereich eines Fahrzeuges, wo die Hersteller zunehmend hochfesten Profilstahl einsetzen. Der soll Crashenergie um das Innere der Fahrgastzelle ableiten und gleichzeitig Gewicht und Verbrauch des Fahrzeuges reduzieren.

Schattenseite

Rettungskräfte mit Hydraulikschere Foto: ADAC

Fluch und Segen liegen also dicht beieinander. Was die Insassen bis zu einem bestimmten Punkt schützt, kann ihnen darüber hinaus zum Verhängnis werden. Die Verzögerungen wären womöglich weniger groß, würden die Rettungskräfte die schwächsten Stellen der Fahrzeugkonstruktion besser kennen. Der ADAC fordert daher von den Herstellern sogenannte Rettungskarten mit einem Verzeichnis dieser Angriffspunkte hinter einer der Sonnenblenden zu deponieren. Sie sollten gleichzeitig über den Einbauort der Airbags informieren, weil diese unausgelöst eine zusätzliche Gefahr für Opfer und Retter darstellen. Wie die Sicherheitsexperten des Automobilklubs begründen, ließe sich von den Rettern, die in der Praxis meist der Freiwilligen Feuerwehr angehören, nicht erwarten, dass diese die Struktur eines Unfallautos aus dem Effeff kennen. Unter Einsatzbedingungen, das zeigten die eigenen Erfahrungen, würde kaum die Hälfte der Modelle richtig erkannt.

Zurückhaltung bei den Herstellern

Teile der vom ADAC vorgeschlagenen Rettungskarte Foto: ADAC

Deshalb die Karte hinter der Sonnenblende. «Ein verblüffend einfacher Vorschlag», findet Jörg Benecker und ist zugleich skeptisch. «Es gibt unter diesen Bedingungen keinen sicheren Aufbewahrungsplatz im Auto.» Gleichwohl finde er jeden Versuch lohnenswert, der die Rettung erleichtert. «Zeit ist ein klarer Prädiktor, um Leben zu retten.» Allerdings schätzt er die Bereitschaft der Autobauer, die notwendigen Daten bereitzustellen, zurückhaltend ein. Frühere Versuche eines Herstellers, die entsprechenden Ansatzpunkte im Fahrzeug zu markieren, hätten zu Schwierigkeiten beim Verkauf geführt. Denn der Kunde ist offensichtlich überfordert. Auf der einen Seite kauft er sich ein Auto in der Annahme höchst möglicher Sicherheit und soll sich zugleich den Zeitpunkt seines gravierendsten Versagens vorstellen.

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