Mit dem Ora 07 bereichert Great Wall Motors das Sortiment an elektrischen Mittelklasse-Limousinen. Und die Chinesen schärfen die Sinne für die Grenze zwischen Nützlichem und Nervigem.
Inzwischen hat sich auch in Deutschland herumgesprochen, dass die Automarke Ora weder etwas mit dem Verhaltens-Kodex der Benediktiner-Mönche, noch etwas mit einem Wind-Phänomen am Gardasee zu tun hat. Sind die drei Buchstaben mit der Kennziffer 07 verbunden, handelt es sich um einen ebenso eleganten wie rundgeschliffenen Viertürer, der vereinzelt und nicht ohne Grund schon als „Chinesen-Panamera“ bezeichnet wurde.
Fast 4,90 Meter ist er lang, sympathische Kulleraugen und ein selbstbewusst gewölbtes Glasdach machen ihn zu einer auffälligen Erscheinung im Straßenverkehr. Als Hauptwettbewerber sind nicht nur Fahrzeuge von BYD anzusehen, sondern auch der Hyundai Ioniq 6 fährt im Rennen um die Publikumsgunst mit. Von den drei verfügbaren Antriebsvarianten des Ora 07 stand für diesen Praxistest das Topmodell mit 408 PS Leistung und Allradantrieb zur Verfügung.
Großes Glasdach in Serie
Die Wahlmöglichkeiten für die Gestaltung des Innenraums sind überschaubar. Wer weder mit schwarzen noch mit karamelfarbenen Polstern und Verkleidungen etwas anfangen kann, wird sich bei anderen Marken umsehen müssen. Jedoch ist die Gestaltung harmonisch und geschmackvoll, die bogenförmig schwebende Mittelkonsole mit gebürsteten Alu-Einlagen ein echter Hingucker und der zentrale Bildschirm zur Steuerung von Fahr-, Klima-und Entertainment-Funktionen von 12,8 Zoll Größe. Anschmiegsames Lederimitat bedeckt einen Großteil der Insassen-Umgebung, die Kabine ist dank großem Glasdach hell, freundlich und übersichtlich.
Eines Startknopfes bedarf es nicht, die Sitzbelegungs-Erkennung stellt die Fahrbereitschaft her. Zumindest theoretisch. Praktisch losgehen kann es erst, wenn das Gurtschloss eingerastet ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob man auf dem Parkplatz lieber doch noch ein paar Zentimeter mehr Abstand zum Nebenmann herstellen oder eine hunderte Kilometer lange Autobahnfahrt antreten möchte. Mag sein, dass die EU-Kommission Autofahrer generell für unfähig hält, sich ohne akustische Warnungen an Temporegeln zu halten, dass ein Fahrzeug dem nicht angeschnallten Lenker den Dienst verweigert, ist aber eine Bevormundung zu viel.
Müssen Aufpasser nerven?
Es überrascht keineswegs, wenn chinesische Hersteller mit ihren Fahrzeugen die im Herkunftsland herrschenden Vorstellungen von Sicherheit zu exportieren versuchen, doch beim Ora 07 wäre an einigen Stellen weniger mehr gewesen. Zur Aktivierung verschiedener Funktionen ist der Blick auf dem Bildschirm nun einmal unvermeidlich, zieht aber unweigerlich auch eine Ermahnung des virtuellen Begleiters nach sich. Wer dem Befehl „Auf Fahrt achten“ nicht unverzüglich nachkommt, wird Sekunden später mit „Gefahr!“ angeschnauzt.
Als hypersensibel stellte sich der Spur-Assistent heraus. Sein energischer Eingriff ist sicher gut gemeint, stört aber die entspannte Gleitfahrt gewaltig. Fehlt eine Fahrbahnmarkierung, wird’s richtig unruhig. Dann versucht das System, etwas zu korrigieren, was mangels optischer Orientierungslinien nicht korrigierbar ist. Will man den Spurhalter abschalten, braucht es fünf einzelne Schritte im Steuerungsmenü. Dafür muss man aber auf den Bildschirm schauen, was die Fahrerüberwachung zur erneuten Intervention veranlasst. Einziger Lichtblick: Im Rahmen eines Software-Updates sollen die Nerv-Faktoren beseitigt, die physischen und akustischen Eingriffe auf ein Normalmaß reduziert werden.
Ungewöhnlich geringe Zuladung
Nicht durch Software zu ändern ist die fehlende Höhen-Verstellbarkeit der Sicherheitsgurte sowie die mit 350 Kg recht magere Zuladung. Dieser Wert überrascht, denn als Fahrzeug, das eine 86-kWh-Batterie an Bord hat, ist der Ora 07 mit gemessenen 2170 Kilogramm Leergewicht ein eher schlanker Vertreter seiner Zunft. In der Praxis bedeutet das aber: Sind fünf Personen à 70 Kilogramm Körpergewicht an Bord, müssten sie ihr Gepäck mit der Bahn zum Urlaubsort schicken. Andernfalls droht eine Fahrt in die Illegalität. An Platz fehlt es den Passagieren nicht, vorn ist die Kabine 1,47 Meter breit, hinten 1,40 Meter.
Die Insassen werden begleitet von einer Ausstattung, die in dieser Preisklasse ihresgleichen sucht. Die GT-Allradversion steht mit 53.490 Euro in der Liste. Gegen Aufpreis sind lediglich zwei Metallic-Lackierungen erhältlich, alles andere ist Serie. Dazu gehören Sprach- und Parkassistent, Abbiege- und Querverkehrsassistent, beheizbare und kühlende Massagesitze, ein Head-up-Display, eine Soundanlage mit elf Lautsprechern und vieles mehr. Unter dem elektrischen Kofferraumdeckel (Ladekante 78 cm) sind 333 bis 1045 Liter Volumen nutzbar.
Weniger weit im Winter
Der gediegene Komfort, die gute Verarbeitung, ordentliche Platzverhältnisse und die gehobene Ausstattung – all das zahlt auf das Sympathie-Konto ein. Zu ungewollten Abbuchungen kommt es jedoch, wenn die Klimaautomatik sommerliche 25 Grad verspricht, es aber auch nach 30 km Fahrt in der Kabine nicht wärmer wird als 21 Grad. Winterliche Außen-Temperaturen sind grundsätzlich Feind jeden Elektromobils, da macht der Ora 07 keine Ausnahme. Zwar soll unter Idealbedingungen eine Reichweite von 520 Kilometer möglich sein, bei unseren Testfahrten errechnete das Bordsystem selbst bei 100 Prozent Ladung nur 410 Kilometer. Im Schnitt wurden 20,3 kWh/100 km verbraucht. Das ist für Größe und Gewicht des Fahrzeugs in Ordnung, auch wenn das Datenblatt 17,5 kWh verspricht.
Fahrleistung und –komfort sind tadellos. Satte Straßenlage, präzise Lenkung, druckvolles Anfahren dank 680 Nm Drehmoment und geringe Windgeräusche auch bei höheren Tempi schnüren sich zu einem Paket angenehmen Reisens. Lediglich auf Kopfsteinpflaster neigt das Fahrwerk zu Missfallens-Kundgebungen in Form von Rumpelgeräuschen. Ein roter Knopf am Lenkrad aktiviert die größtmögliche Beschleunigung (4,5 Sekunden auf 100 km/h), abgeregelt wird bei 180 km/h. Das im Sportmodus digital dazu gemischte Motorgeräusch kann man als verzichtbare folkloristische Einlage werten.
Beim Preis-Leistungsverhältnis fährt der Ora 07 vielen Wettbewerbern davon. Ansprechendes Design kombiniert mit einem hohen Wohlfühlfaktor und ordentlichen Fahrleistungen sprechen für den Viertürer. Wenn es künftig noch gelingt, elektronische Helferlein und Software an europäische Erwartungen und Gewohnheiten anzupassen, dürfte einem Erfolg nichts im Wege stehen.