«Rollende Wanderdüne»: Der Strich-Achter

In diversen Bereichen war der Strich-Achter von Mercedes ein wegweisendes Auto. Sein ursprünglichen Spießer-Image hat der Ausbund an Sachlichkeit längst abgelegt.

Manche Dinge sind schwer vorstellbar - aber nicht unwahrscheinlich. Zum Beispiel der Gedanke, dass eine Mercedes E-Klasse des Baujahrs 2008 ein echtes Kultobjekt sein könnte. Sicher handelt es sich dabei um hochwertige Autos. Nur zieren sie vor allem Behördenparkplätze oder Carports von Vorstadt-Reihenhäusern. Eine E-Klasse als bestauntes Objekt in einem Szeneviertel? Kaum vorstellbar. Letztendlich ist es aber nicht unwahrscheinlich, denn vor 40 Jahren erschien mit dem Strich-Achter ein Auto, das zunächst nichts anderes als einen Ausbund an Spießbürgerlichkeit darstellte. Heute ist der Urahn der aktuellen E-Klasse ein oft bestauntes Kultobjekt.

Nüchternes Design

1968 wurde auf verschiedene Art Geschichte geschrieben. In Deutschland steht das Jahr für die Studentenunruhen und das Attentat auf Rudi Dutschke. Besonders vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass gerade dieses Mercedes-Modell zu einem klassenlosen Liebhaberobjekt geworden ist. Denn seinerzeit stand es für das, was die protestierenden Studenten als Feindbild auserkoren hatten: Dieses Auto war nichts anderes als der Dienstwagen des Establishments, das Traumauto des gehobenen Beamten und des «Spießers» im Allgemeinen.

Am 9. Januar 1968 wurde der Strich-Achter der Presse präsentiert. Für die ersten Betrachter dürfte der Blick auf die «Neue Generation» ein Kulturschock gewesen sein. Hatte Mercedes bisher auf rundliche Formen und Ansätze von Heckflossen im Stil amerikanischer Straßenkreuzer aus den 50er Jahren gesetzt, stand vor ihnen nun ein Auto, dessen Design an Nüchternheit kaum zu überbieten war.

Geheimnisvolle Kürzel

So erscheint es fast als Witz der Geschichte, dass dieser Ausbund an Sachlichkeit heute liebevoll Strich-Achter genannt wird. Denn hinter dieser Bezeichnung verbarg sich der fast schon hilflose Versuch, die präsentierten Modelle in der eher einfallslosen Reihe der Modellbezeichnungen des Hauses kenntlich zu machen. Wie gewohnt setzte man auch beim Strich-Achter auf ein Verfahren, das die Modellbezeichnungen grob den Hubräumen des Motors zuordnete - das Modell 200 mit zwei Litern Hubraum, der 230er mit 2,3 Litern und so weiter. Nur hatte es das auch schon bei Vorgängermodellen gegeben.

Die neue Modellpalette wurde nun - in erster Linie intern - mit der Endziffer des Jahres gekennzeichnet, in dem sie erschien: So wurde dann ein 200er der Generation ab 1968 zum 200/8. Ein Schrägstrich und eine Acht, nichts wirklich Einfallsreiches. Wer daraus den Strich-Achter machte, bleibt ein Geheimnis der Automobilgeschichte.

Es hätte auch ganz anders kommen können. Schließlich verwendete Mercedes zusätzliche interne Baureihenkürzel. Jeder Youngtimer-Liebhaber zum Beispiel weiß, was ein 123er ist - die Baureihe W123 folgte dem Strich-Achter, der bis 1976 gut 1,9 Millionen Mal gebaut wurde. Und der besaß ebenfalls ein Baureihenkürzel, genauer gesagt sogar zwei: Den einfacheren Ausführungen mit vier Zylindern wurde die Bezeichnung W 115 zugeordnet, die edleren Sechszylinder waren die Baureihe W 114. Optisch gab es kaum Unterschiede - die wenigen, die es gab, waren den Besitzern jedoch überaus wichtig.

Unterschiede als Statussymbol

Wer genügend Geld für einen der großen Sechszylinder wie den 250er oder später den 280er hatte, bekam vom Werk ein Auto mit protzigen, verchromten Doppelstoßstangen vorn. Hinten gab es - je nach Modell und Baujahr - eine Chromstoßstange. Wer die Unterscheidung noch deutlicher haben wollte, konnte die großen Motorisierungen auch in Verbindung mit einer zweitürigen Coupé-Karosserie ordern.

Die Basis der Baureihe bildete jedoch ein Modell, das sich später als das langlebigste auszeichnen sollte: der 200 D. Hier trafen 55 Diesel-Pferdestärken auf gut 1,4 Tonnen Auto: Dieser schnell als «Wanderdüne» belächelte Basis-Strich-Achter zeichnete sich durch eine kaum wahrnehmbare Beschleunigung aus. Ganz anders gebärdeten sich die Spitzenmodelle. Das gilt besonders für die 1972 eingeführten Strich-Achter mit 2,8-Liter-Sechszylindermotor und bis zu 185 PS Leistung. Sie zeichneten sich durch Fahrleistungen auf Sportwagenniveau aus.

Technisch identische Karosserie

Dass sich beides in einer technisch identischen Karosserie finden konnte, hatte einen Grund: Der Strich-Achter war ein modernes und in manchen Bereichen wegweisendes Auto. So war auch Sicherheit bereits ein Thema: Neben einer Knautschzone gab es eine Sicherheitslenksäule, die sich bei einem Aufprall zusammenschob. Sicherheit, aktuelle Technik, Status und Komfort - was den Strich-Achter auszeichnet, zeichnet auch eine aktuelle E-Klasse aus. Vielleicht lohnt es also doch, den neuen Mercedes schonend zu behandeln, um in ein paar Jahrzehnten ein echtes Kultmobil durch die Szeneviertel zu steuern. (dpa/tmn)

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