Lamborghini 350 GT: Grazile Augenweide

Wer den Lamborghini 350 GT sieht, glaubt sich seiner Sinne beraubt. Von diesem Prunkstück automobiler Coupé-Kunst existieren weltweit nur noch ein paar Dutzend Fahrzeuge.

Von Stefan Grundhoff

Seine mehr als 40 Jahre sieht man diesem Lamborghini 350 GT wirklich nicht an. Er ist rot, in einem unanständig guten Zustand und so grazil wie kaum ein anderes Coupé aus den 60er. Als dieser knallrote Lamborghini das Licht der Welt erblickte, kamen CO2-Bilanz, verstopfte Innenstädte und endlose LKW-Schlangen nicht einmal in Endzeitstreifen vor. In Zeiten, in denen der norditalienische Sportwagenhersteller mit Modellen wie Murcielago und Gallardo erfolgreich das Cutting-Edge-Design proklamiert, scheint eine Ausfahrt im Lamborghini 350 GT wie eine Reise ins Mittelalter.

Kraftvolles Debütmodell

Man schreibt das Jahr 1963 und der Turiner Automobilsalon findet insbesondere in punkto Design weltweite Beachtung. Elegante Sportwagen kommen aus England und Italien, Chrom ist ein absolutes Muss und Sicherheitsausstattungen sind allenfalls wilde Hirngespinste in Ingenieurshirnen. Ein Rundgang über die Automobilmessen in Deutschland, Italien oder der Schweiz raubt echten Automobilfans den Atem. Schönheitsköniginnen sieht man allenthalben - wohlgemerkt mit einem hölzernen Lenkrad und zumeist mit den charismatischen Speichenrädern. Der Lamborghini 350 GT passte in die damals so autobegeisterte Zeit, war er doch das erste Serienmodell, das die ehemalige Traktorenschmiede gegen wild brüllende Konkurrenzprodukte von Ferrari und Maserati stellte.

Zwölf Zylinder, 3,5 Liter Hubraum, 206 kW/280 PS Leistung und nahezu 250 km/h Spitze sorgten bei vielen Autofans für schweißnasse Hände - ohne auch nur einen Meter gefahren zu sein. Produziert wurde der erste Serien-Lambo von 1964 bis 1967. Firmeninhaber und Traktorenproduzent Lamborghini war unzufrieden mit seinem Ferrari und um Enzo Ferrari eins auszuwischen, kreierte man kurzerhand ein Konkurrenzmodell. Der 350 GT war weit mehr als eine automobile Augenweide - er hatte auch deutlich mehr Power als die Konkurrenz aus Modena.

Geteilte Stoßstangen

Weibliche Formen Foto: Press-Inform

Doch was ist schon ein Zwölfzylinder, wenn man in diese Augen schaut. Da sind die lange Motorhaube, die zahlreichen Chromelemente und die keck aus der Motorhaube herausschauenden Frontscheinwerfern, die einen verzaubern. Ihr Licht war dünn, aber der optische Einfluss in die 350er-Linienführung mächtig. Eine Augenweide bleiben bei jedem Blickkontakt die geteilten Stoßstangen an Front und Heck, die Kühlergrill und Heckkennzeichen umspielen und die weibliche Seite des Gran Tourismo unterstreichen. Für das Design des zarten Italieners zeichnete sich seinerzeit Nachwuchs-Kreateur Franco Scaglione verantwortlich. Der renommierte Turiner Karosserieschneider Sargiotto setzte seine Ideen eindrucksvoll um.

Doch Firmeninhaber Ferrucio Lamborghini war nach dem ersten Auftritt in Turin nicht vollends zufrieden mit der Kreation. So wurde Bianchi Anderloni damit beauftragt, vor dem 64er Genfer Salon für einen letzten Feinschliff zu sorgen. Um Erscheinungsbild und Fahrverhalten zu optimierten, wurden beim 350 GT unter anderem der Radstand von 2,45 auf 2,55 Meter verlängert und das Dach um ein paar Zentimeter angehoben.

Filigraner Innenraum

Eleganz bis ins Detail Foto: Press-Inform

Die Reifen liegen tief in den Radkästen und geben den Blick frei auf die Speichenfelgen mit zarten 205/70er Reifen. Der Innenraum des ersten Lambo zeigt sich ebenso filigran wie das Äußere. Schwarze Ledersitze und das klar gezeichneten Armaturenbrett mit großartigen Rundarmaturen und einer wahren Schalterbatterie sorgen bei Pilot und Passagier für ein wohliges Empfinden - vorausgesetzt man hat kein Gardemaß. Denn über 1,80 Meter sollte man nicht messen, dann wird es auf den konturlosen Lederstühlen ohne Gurt und Kopfstütze knapp mit dem Frisurvolumen. Die Verstellmöglichkeiten der Stühle sind rar und wohl nur Insassen um die 1,70 Meter finden in dem nur 120mal produzierten Hecktriebler eine angenehme Sitzposition.

Fahrerauto für Fortgeschrittene

Der Fahrer muss richtig ackern Foto: Press-Inform

Doch der 350 GT ist nicht nur ein optischer Leckerbissen. Vielmehr handelt es sich um ein Fahrerauto für Fortgeschrittene. 280 PS und ein zumindest in hohen Drehzahlen hungriger Zwölfzylinder verlangen im Grenzbereich nach einer souveränen Hand. Arm- und Beinmuskulatur machen nach der sonntäglichen Ausfahrt in den Bergen das Workout überflüssig. Leicht und locker geht in diesem Volant kaum etwas von der Hand. Kupplung, Bremse und Handschaltung müssen mit allem Nachdruck bedient werden. Bei einer Tour durch die Schweizer Alpen oder entlang der Sonnen verwöhnten Cote d’Azure genießt man das mächtige Potenzial des Cruiser.

Übersteigt der mit sechs Doppelvergasern ausgestattete Zwölfender die 4000er-Marke, zeigt er sein wahres Gesicht. Bei 4800 Umdrehungen auf dem Tourenzähler stehen beeindruckende 400 Nm zur Verfügung. Wer es darauf ankommen lässt, kann dem 1,4 Tonnen schweren Renner nahezu Tempo 250 entlocken und der Retro-Konkurrenz eiligst davoneilen. Nach kaum mehr als sieben Sekunden rauscht auf dem schmucken Armaturenchronometer die 100er-Marke vorbei. Den versprochenen Durchschnittsdurst von 18,5 Litern Super auf 100 Kilometer gönnt man einer solchen Skulptur gerne und träumt weiter von Gina Lollobrigida, die einen nach dem Tankstopp bereits mit einem schmachtenden Blick auf dem Beifahrersitz erwartet.

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