Auf dem Weg zum autonomen Fahren sind nicht nur technische Probleme zu lösen. Es geht darum, die Welt und das Auto neu zu denken. Daimler versucht dies nun mit einem futuristischen Innenraum.
Von Frank Mertens
Wer derzeit über autonomes Fahren spricht, spricht vor allem über die Perfektionierung der Technik. Wie lange wird es dauern, bis die Fahrassistenzsysteme so weit sind, uns autonom von A nach B bringen? Bedarf es neuer Sensoren oder leistungsstärkerer Kameras? Wie schauen die rechtlichen Rahmenbedingungen aus, die es für selbstfahrende Autos braucht? Fragen über Fragen.
Doch nur selten wird thematisiert, ob sich für die Mobilität der Zukunft auch das Fahrzeug an sich verändern muss. Für den Autobauer Daimler stellt sich diese Frage nicht: natürlich wird sich auch das althergebrachte Aussehen des Autos ändern, sei es von außen oder von innen. "Es ist unsere Überzeugung, dass autonomes Fahren mehr bedeutet als die Perfektionierung der Technologie", sagte Herbert Kohler beim TecDay "Autonome Mobilität" am Forschungsstandort Sunnyvale im Silicon Valley im US-Bundesstaat Kalifornien.
Für Kohler, bei Daimler verantwortlich für die Konzernforschung, ist dann auch klar, dass eine Welt, "in der autonomes Fahren so selbstverständlich ist wie soziale Netzwerke", anders aussehen und anders gelebt werden wird.
Visionäre Knutschkugel von Google
Was das mit Blick aufs Auto bedeutet, hat Google im März mit seinem autonom fahrenden Prototypen gezeigt. Es sieht von außen weniger wie ein Auto als vielmehr wie eine kleine Knutschkugel aus. Google verzichtet im Innenraum sowohl aufs Lenkrad als auch auf das Gas- und Bremspedal. Der IT-Gigant hat das Auto neu gedacht, was die etablierten Hersteller bislang in dieser Konsequenz nicht gemacht haben. Ein solches Auto wie das von Google, so glaubt Hartmut Sinkwitz, der bei Daimler das Interieur-Design verantwortet, wäre in dieser Form wohl nicht möglich gewesen, wenn sich der IT-Gigant von automobilen Markenwerten hätte leiten lassen müssen. Sind Markenwerte also ein Innovationshindernis? Keineswegs, denn solche Markenwerte würden auch Halt und Orientierung geben, betont Sinkwitz.
Was das für Mercedes bedeutet, zeigten die Schwaben jetzt mit ihrem Konzept eines visionären Innenraums. Bei diesem für eine viersitzige Limousine gestalteten Konzept setzte das interdisziplinär tätige Entwicklerteam als Kernelement auf ein variables Sitzsystem mit vier drehbaren Loungesesseln. Sie ermöglichen es Fahrer und Beifahrer, ihre Sitze so zu drehen, dass man seinen Mitreisenden im Fond gegenübersitzt, wenn man das Auto denn autonom fahren lassen will.
Automatisch einfahrendes Lenkrad
Dazu gehört dann auch das sich das Lenkrad automatisch einfährt, um so Platz zu schaffen für die Zeit, in der man nicht selbst mit Autofahren beschäftigt ist. Die durch das autonome Fahren gewonnene Zeit kann dann entweder dazu genutzt werden, sich mit den Mitreisenden zu unterhalten, Kino auf der zwischen den beiden hinteren Sitzen projizierten Leinwand zu schauen oder sich schlicht zu entspannen.
Im Innenraum der Zukunft wird es dann auch keine Drehregler oder analoge Instrumente mehr geben. Vielmehr hält die digitale Welt Einzug, in dem ein neues Interface geschaffen wird. So befindet sich im Armaturenbrett ein über die ganze Breite des Fahrzeugs reichendes Display und im Innenraum gibt es eine Vielzahl von Projektionsflächen, die man per Gesten steuern kann. Die analoge Welt ist damit Vergangenheit, sie geht bei diesem Konzept in der digitalen Welt auf. Das hört sich ein wenig nach Sci-Fi an und fühlt sich beim Ausprobieren auch ein wenig so an. Doch diese Vision im Innenraum könnte bereits im Jahr 2030 Realität werden, wobei etliche Ansätze davon wohl schon früher in künftigen Modellen der Stuttgarter zu sehen sein dürften.
Mit Bertha autonom durch Sunnyvale
Daimlers Zukunftsforscher Alexander Mankowsky konstatiert, dass die Stuttgarter mit diesem Konzept das Auto ebenfalls neu denken - und das bei vollem Kundennutzen. Das kann man vom Google-Prototypen nicht sagen, der nur bis Tempo 25 km/h durch Mountain View fahren kann. Ein Ersatz für das eigene Auto ist er damit nicht. Anders bei Mercedes: Hier legte eine S-Klasse im Vorjahr eine Strecke von 100 Kilometer autonom zurück.
Zu Versuchszwecken ist Mercedes derzeit auch in Sunnyvale autonom mit einer liebevoll Bertha genannten autonomen S-Klasse unterwegs. Der Name erinnert an Bertha Benz, die 1888 die 106 Kilometer lange Strecke von Mannheim nach Pforzheim zurückgelegt hat und der damit die erste erfolgreiche Fernfahrt in einem Auto gelang.
Im vergangenen Jahr legten die Daimler-Entwickler die Strecke in einem S 500 Intelligent Drive voll autonom zurück und nun arbeitet man an der Perfektionierung der Technologie, die bereits ziemlich gut funktioniert, wie die Testfahrten mit Bertha auf einer 21 Kilometer langen Strecke rund um Sunnyvale zeigte – auf der sich Bertha recht souverän autonom durch den Verkehr bewegte.
Dabei reagiert Bertha nicht nur sehr souverän auf andere Verkehrsteilnehmer wie Autos, Fußgänger oder Radfahrer, sondern bezieht natürlich auch Ampeln und Verkehrsschilder in die Fahrt mit ein, halt so, als ob ein Fahrer das Auto lenken würde. Doch hier übernimmt die Technik recht souverän den Job des Fahrers, in unserem Fall einer Fahrerin, die selbst beim Abbiegen mit Gegenverkehr recht entspannt über die technische Erfordernisse erzählt. Derzeit unterscheidet sich diese S-Klasse bis auf den im Innenraum installierten Kontrollmonitor optisch kaum.
Neues Konzeptfahrzeug auf CES
Das wird beim nächsten Konzeptfahrzeug bereits anders sein, das Mercedes im Januar in Las Vegas auf der Consumer Electronics Show (CES) präsentieren wird. Es wird dann auch bereits über den in Sunnyvale auf Skizzen und virtuell erlebten Innenraum verfügen und für Mercedes den nächsten Schritt auf dem Weg zur Mobilität der Zukunft bedeuten. Mit dem, wie man sich heute ein Auto vorstellt, hat das nur noch wenig gemein, weil hier die analoge mit der digitalen Welt verwoben wird.
Das hört sich theoretisch an – ist es aber nicht. Im Innenraum der Zukunft wird die Außenwelt in die Innenwelt des Fahrzeugs gebracht, in dem man die Fahrzeugumgebung auf Displays ins Fahrzeuginnere holt. Hier warten nicht nur auf die Hersteller eine Vielzahl von Herausforderungen, sondern auch für den Kunden. Auch er muss sich von seinem althergebrachten Bild des Autos, der Mobilität und der damit einhergehenden Infrastruktur verabschieden – und es neu denken. Nur durch Visionen, so betont Kohler, könne der gesellschaftliche Diskurs zur Mobilität und Gestaltung urbaner Lebensräume vorangetrieben werden.
So wenig wie 1888 bei der Bertha-Benz-Fahrt vorstellbar war, dass diese Strecke 125 Jahre später von einem Auto autonom zurückgelegt werden würde, kann man sich heute kaum vorstellen, dass es in der Stadt der Zukunft vielleicht nur noch autonom fahrende Autos gibt und die Infrastruktur nur noch in Ansätzen viel mit dem gemein hat, wie wir sie heute kennen.