Harley-Davidson Street Rod: Zweiter Anlauf

Günstigster Vertreter der Marke

Harley-Davidson Street Rod: Zweiter Anlauf
Harley-Davidson hat die Street Rod sinnvoll überarbeitet © Harley-Davidson

Mit der ersten Street Rod ging Harley-Davidson in Europa baden. Die stark überarbeitete Neuauflage des günstigsten Bikes der Amerikaner erreicht nun ein neues Niveau.

Eine Leistung von 71 PS aus 749 Kubikzentimetern Hubraum ist schon vor 20 Jahren nicht weiter erwähnenswert gewesen. Anders ist das auch heute fast nur, wenn es sich um einen Harley-Motor handelt. Die demnächst 115 Jahre alte Motor-Company aus dem amerikanischen Mittelwesten gilt als der ganz große Traditionalist der Szene. Diese für ein Harley-Aggregat ungewöhnliche Leistungsausbeute macht der neuen „Street Rod“ flinke Beine. Bei ihr handelt es sich um die zweite Stufe der 2014 gezündeten „Street“-Rakete. Die hat bislang allerdings nur in fernen, noch wenig entwickelten Märkten die geplante Umlaufbahn erreicht, während sie in Europa rasch verglüht ist.

Ohne Einschränkungen loben ließ sich an der billigsten je angebotenen Harley-Davidson, der in Indien gebauten Street, damals eigentlich nur der neu entwickelte Zweizylinder-V-Motor. Ein feines, drehfreudiges und dennoch für seine Größe durchzugsstarkes Triebwerk mit zukunftssicherer Flüssigkeitskühlung. Jetzt haben die amerikanischen Entwickler das Aggregat erneut in die Mangel genommen und damit dem neuen Street-Derivat Beine gemacht: Mehr Leistung, mehr Drehmoment, höherwertige Fahrwerkselemente, wesentlich verstärkte Bremsen und eine deutlich aktivere Sitzposition heben die Street Rod auf ein erfreulich hohes Niveau.

Verändertes Street-Konzept

Die amerikanischen Entwickler haben tief eingegriffen ins Street-Konzept eines kleinen Cruisers. Der extrem niedrige Sitz wurde geliftet, die Fußrasten wanderten ein gutes Stück in Richtung Fahrzeugmitte zurück, zudem werden sie höher montiert. Das vergrößert die mögliche Schräglage deutlich. Zudem wird eine breite, fast vollkommen gerade Lenkstange montiert, an deren Enden je ein runder Spiegel fixiert ist.

Ergebnis der Umpositionierung des Fahrers ist eine dynamischere, zugleich aber sehr gewöhnungsbedürftige Sitzposition: Der Oberkörper ist leicht nach vorne orientiert, die Arme sind ziemlich gespreizt. Aus der Kombination des noch immer recht niedrigen Sitzes mit den hohen Rasten resultiert eine sehr sportliche Unterbringung der Beine; sie sind stark abgewinkelt, was nicht so recht als bequem empfunden wird. Aber man kann sich daran gewöhnen.

Harley für junge Leute

Harley-Davidson hat die Street Rod sinnvoll überarbeitet
An den Schenkeln wird es heiß Harley-Davidson

Für lange Distanzen ist die Street Rod aber ohnehin nicht konzipiert; sie will junge Leute ansprechen, die sie in der Stadt nutzen und für gelegentliche Ausflüge in deren Umgebung einsetzen. Dafür braucht man ein gutes, kurvenfestes Fahrwerk, und das haben die US-Boys der Street Rod auch spendiert. Eine neue, kräftigere Upside-down-Gabel führt das Vorderrad mit nun 17 Zoll Durchmesser, hinten legen sich recht gut abgestimmte neue Federbeine ins Zeug und kontrollieren ein ebenfalls 17 Zoll großes Hinterrad. Erfreulich agil bewältigt die Street Rod kurvenreiche Strecken, erfordert beim Einlenken nur wenig Kraft und bleibt selbst auf welligem Untergrund stabil auf dem gewählten Kurs. Auf einem guten Niveau agiert auch die Bremsanlage; zwei große Scheiben im Vorderrad und eine ebenso großzügig bemessene 30-Zentimeter-Scheibe im Hinterrad verzögern wirksam, auch wenn die Dosierbarkeit noch feiner sein könnte. Auch hat bei der Kraft- und Ertüchtigungskur ein ABS den Weg ins Chassis gefunden.

Das Sahnestück der 8495 Euro teuren Street Rod ist aber trotz des sehr ordentlichen Fahrwerks der um 18 Prozent erstarkte, wassergekühlte V2. Er dreht bis 9000 U/min., liefert sein höchstes Drehmoment aber schon bei 4000 Touren. Das heißt, man kann ihn drehen, aber man muss dies nicht ständig tun, um flott unterwegs zu sein. Die sechs Gänge schalten sich ausreichend präzise, leider klappt die Leerlaufsuche im Stand nicht immer beim ersten Mal. Vibrationen leistet sich der V2 erst jenseits der 7000er-Marke; nervig werden sie aber niemals. Über den Verbrauch des Triebwerks gibt die Bordelektronik keine Auskunft; Harley nennt einen Konsum von 4,3 Litern, was durchaus realistisch sein dürfte. Gut 250 Kilometer Reichweite sind also drin im 13-Liter-Tank.

Bessere Voraussetzungen für die Street Rod

Harley-Davidson hat die Street Rod sinnvoll überarbeitet
Gut ablesbar ist die Retro-anzeige Harley-Davidson

In vielen Punkten können die gegenüber der Ur-Street deutlich verbesserte Verarbeitung und Ausstattung überzeugen und man fragt sich unwillkürlich: Warum denn nicht gleich so? Dennoch hinkt auch die Street Rod hinter der Qualitätsanmutung einer „echten“ Harley aus Kansas oder Milwaukee sicht- und fühlbar hinterher: Kleine Unzulänglichkeiten an der Elektronik (Gedenksekunde vor dem Arbeitsbeginn des Starter-Motors, keine Ganganzeige bei Fahrzeug-Stillstand), aber auch feiste Schweißnähte am Rand des Tanks, unschöne Schraubverbindungen und ein paar andere Nachlässigkeiten sind nicht wirklich markengerecht. Schade, dass die Handhebel nicht einstellbar sind, abgewinkelte Reifenventile fehlen und der Bremshebel etwas zu hoch montiert ist, um ihn mit dem rechten Fuß geschmeidig erreichen zu können.

8495 Euro für eine Street Rod erscheinen als akzeptabler Preis für eine ordentliche Portion Fahrdynamik inklusive des auf ihr aufkommenden Harley-Feelings. In Kauf nehmen müssen der Fahrer oder die Fahrerin, dass die Beine im Stand gegrillt werden: links wärmt der hintere Zylinder den Oberschenkel, rechts findet der Unterschenkel gern Kontakt mit dem Auspuff. Dessen Sound, angenehm sonor, ist einer Dreiviertelliter-Harley durchaus würdig. Es bedarf keiner prophetischer Gabe, um der Street Rod, dieser kleinen heißen Feile, in den entwickelten (europäischen) Märkten eine weitaus erfolgreichere Zukunft vorherzusagen als die Street sie hatte. (SP-X)

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Thomas Flehmer
Der diplomierte Religionspädagoge arbeitete neben seiner Tätigkeit als Gemeindereferent einer katholischen Kirchengemeinde in Berlin in der Sportredaktion der dpa. Anfang des Jahrtausends wechselte er zur Netzeitung. Seine Spezialgebiete waren die Fußball-Nationalelf sowie der Wintersport. Ab 2004 kam das Autoressort hinzu, ehe er 2006 die Autogazette mitgründete. Seit 2018 ist er als freier Journalist unterwegs.

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