Passt das zusammen? Harley-Davidson und Elektromibilität. Warum nicht! Die Livewire jedenfalls lässt kaum Wünsche offen.
Die einen nennen Harley-Davidson ob seiner Entscheidung für die vollelektrische Livewire mutig, die anderen verwegen und dritte gar tollkühn. Egal welche Einschätzung stimmt: Niemand kann heute mit Gewissheit sagen, wie dieser Vorstoß in die Welt des elektrischen Zweiradantriebs ausgeht.
Der fraglos hohe Einstandspreis von über 33.000 Euro stimuliert den Absatz ja auch nicht gerade. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf man (auch) deshalb davon ausgehen, dass die von den meisten Betrachtern als gutaussehend bezeichnete Livewire es weder hierzulande noch anderswo auf der Welt in den Verkaufs-Bestenlisten weit nach oben schaffen wird.
Harley kann es auch elektrisch
Doch unabhängig davon, ob die Verkäufe für den Hersteller und die Händler der Marke zufriedenstellend ausfallen: Die Harley-Davidson Livewire ist ein Statement. Sie dokumentiert eindrucksvoll, dass die fast 120 Jahre alte Motor Company aus Milwaukee es auch elektrisch kann. Und zwar gut, wie unser intensiver Kontakt mit der Livewire gezeigt hat.
Die im vergangenen Sommer bei der Weltpräsentation dieses Modells in Portland/Oregon gewonnenen positiven Eindrücke zum Fahrverhalten bestätigen sich auch in Deutschland: Fahrwerk und Bremsen funktionieren auf sehr hohem, für eine Harley eigentlich unglaublichem Niveau. Mit Traktionskontrolle, Kurven-ABS und allen sonst aktuellen Sicherheitssystemen zeigt sich die Livewire up to date.
Fahren ist kinderleicht
Auf Landstraßen hält das 106 PS leistende Motorrad mit so gut wie jedem gängigen Nakedbike der Klasse unter 150 PS mit. Dabei ist das Fahren kinderleicht: Gasgeben, Gas wegnehmen und gelegentlich bremsen genügen, denn wo kein Getriebe, da auch kein Gangwechsel. Die Regelelektronik für die Abgabe der Motorleistung ist perfekt abgestimmt; selbst beim Wenden am Lenkanschlag funktioniert dosiertes „Gasgeben“ einwandfrei.
Als weniger gut erweisen sich im praktischen Betrieb lediglich die Spiegel, weil sie zu viel Fahrerarme und zu wenig Straße zeigen. Die gemäßigt sportliche Sitzposition, die Lenkerbreite, Schalter, Hebel und Cockpit mit schickem TFT-Display gefallen dagegen. Auch die vier Fahrmodi überzeugen; die drei Zusatzmodi zur Selbstkonfiguration sind ein „nice to have“, nicht mehr. Federung und Dämpfung sind insgesamt gut abgestimmt, bösen Flickenteppichen aber nur teilweise gewachsen.
Ein beeindruckendes Drehmoment
Die Leistungsfähigkeit elektrischer Motorräder ist grundsätzlich bekannt: Extremes, jeden Verbrenner deklassierendes Drehmoment, irre Beschleunigung, beschränkte Höchstgeschwindigkeit zum Zwecke der Akkuschonung und längerer Reichweite. Auch das grundsätzlich hohe Fahrzeuggewicht – die sportlich ausgelegte Livewire wiegt ohne jeden Firlefanz 249 Kilogramm – wegen des schweren Akkus ist nichts Neues. Bekannt auch das Problem beschränkter, unterwegs nicht beliebig vergrößerbarer Reichweite, denn Nachladen braucht (viel) Zeit, sofern nicht eine Schnellladesäule zur Verfügung steht.
Womit wir bei der Achillesferse aller batterieelektrisch angetriebenen Fahrzeuge sind, nämlich der Ausdauer. Hier muss man Harley-Davidson erst einmal loben: Auf die Reichweitenanzeige kann man sich hundertprozentig verlassen. Mehrfach haben wir den Akku so gut wie oder sogar ganz leergefahren – nie gab es eine böse Überraschung durch vorzeitiges Liegenbleiben. Freilich ist es unerlässlich, auf den letzten Kilometern das Instrumentarium stets im Blick zu behalten – und sich nicht zu überschätzen.
Bis zu 175 Kilometer Reichweite
Fein raus ist, wessen persönliches Fahrverhalten mit der Reichweite der Livewire – über Land kamen wir in hügeliger Umgebung bei zügiger Fahrweise 140 bis 175 Kilometer weit – quasi auf natürliche Weise übereinstimmt. Wer freilich dazu neigt, gerne mehr als nur „nette Ausflüge“ ins Auge zu fassen oder wer sich von der enormen Fahrdynamik der Livewire leicht verführen lässt, gerät zumindest in der Gewöhnungsphase immer wieder in Konflikte: Darf ich noch? Kann ich noch? Jetzt würde ich so gerne noch.
150 Kilometer sind auf der Landstraße bei diesem Dynamik-Knaller nicht mehr als zwei Stunden Fahrt – eine hin, eine zurück. Gut dran ist, wer das als ausreichend oder vielleicht sogar üppig empfindet, weniger gut derjenige, der den Genuss des geräuschreduzierten Harleyfahrens gerne ausdehnen würde. Im letztgenannten Fall gibt’s nur dann einen Ausweg, wenn sich einem eine Schnellladesäule in den Weg wirft, was freilich auf typischen Motorradstrecken eher selten der Fall sein wird.
Oft darf das ohnehin nicht passieren, denn im Fahrerhandbuch empfiehlt der Hersteller, höchstens jeden vierten Ladevorgang über eine Schnellladesäule vorzunehmen; häufigere „Druckbetankungen“ wirkten sich nämlich negativ auf die Haltbarkeit des Akkus aus. Auch diesen Umstand muss der Fahrer in seine Fahrtkalkulationen einbeziehen. Woraus sich klar ergibt, dass der batterieelektrische Antrieb – zumindest im Zweirad – wohl auf längere Zeit nicht zu einem Standardantrieb werden wird.
Stille beim Motorradfahren
Es ist mehr als nur ein Erlebnis, mit der Harley-Davidson Livewire durch die Stille der Landschaft zu flitzen oder zu gleiten. Es ist faszinierend, selbst zu erfahren, dass Motorradfahren auch ohne Auspuffgeräusche Spaß machen kann. Insbesondere dann, wenn der Untersatz so hochwertig ist wie im Fall der Livewire. Der mehrtägige Umgang mit ihr zeigt aber auch, dass mit E-Motorrädern auf absehbare Zeit lediglich berechenbare Ausflüge möglich sein werden und regelmäßige E-Mobilität deshalb vermutlich noch längere Zeit auf urbane Räume und die dort üblichen Fahrten von und zur Arbeitsstelle beschränkt bleiben werden.
Zu guter Letzt: Über die Formgebung der Livewire gibt’s nicht viel zu diskutieren, denn sie ist gut anzuschauen. Von vorne und von der Seite allemal, am Hinterteil scheiden sich die Geister. In jedem Fall aber ist das Design eigenständig, ein großer Pluspunkt. Auch die Verarbeitung kann bis ins letzte Detail überzeugen. Viele Gedanken hat man sich in Milwaukee auch über eine adäquate Soundkulisse gemacht. Das Ergebnis ist ein sich mit der Fahrgeschwindigkeit steigernder Pfeifton, der nach Herstellermeinung an einen Düsenjet erinnert. Stärker aufs Gemüt zielt aber der künstliche Herzschlag, der dann einsetzt, wenn das Motorrad startbereit ist: Ein leichtes Pulsieren dringt bis in des Fahrers Gesäß. (SP-X)