Einen Rolls Royce muss man erwarten, der platzt nicht einfach herein. Sechs Monate hat die englische Edelschmiede sich Zeit gelassen, um nach der Weltpremiere auf dem Genfer Automobilsalon den Wraith auf die Straße zu bringen.
Von Axel F. Busse
Ein Gespenst fährt herum in Europa. Bald auch in Amerika und China. Doch anders als das im kommunistischen Manifest beschriebene mystische Wesen wird es nicht die proletarischen Massen bewegen, sondern die Wohl- und Bessersituierten. Eine seltene Erscheinung dürfte der Rolls Royce Wraith (zu Deutsch Gespenst) freilich bleiben, dafür sorgt schon der Preis von 234.900 Euro. Netto, versteht sich.
Rolls-Royce Wraith mit mehr Leistung als der Ghost
Sozialpolitiker werden bekanntlich nicht müde, wachsende Armut in der Welt zu beklagen, die Modellpolitik der Hersteller von Luxusfahrzeugen sagt aber etwas anderes. Der Wohlstand nimmt zu. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie immer neue Baureihen kreieren? Seit der Vorstellung des letzten neuen Rolls Royce, dem Ghost, sind erst rund vier Jahre vergangen. Vor der Übernahme der Firma durch BMW waren neue Modelle seltener als Regen in der Zentralsahara. Und da "neu" in der Autobranche oft auch "mehr" bedeutet, verfügt der Wraith über so viel Leistung wie noch nie ein Rolls Royce zuvor.
Der Zweitürer bereichert die Angebotspalette der Marke um eine zusätzliche Karosserieform. Im englischen Sprachjargon wird sie „Fastback“ genannt, wörtlich übersetzt "schneller Rücken". Die Wurzeln des Fastback-Designs liegen in den Stromlinien-Fahrzeugen der 30er Jahre. Der erste Wraith mit dem RR-Logo war aber noch ein Viertürer, geblieben sind heute die hinten angeschlagenen Türen. Eine Schrägheck- oder Coupéform schien zwingend, da es im Luxussegment offenkundig eine Menge Kunden für Autos dieser Art gibt. Die andere englische Edelschmiede für hoch motorisierte Fuhrwerke, Bentley, hat mit dem ähnlich gebauten Continental GT in zehn Jahren rund 26.000 Stück verkauft – eine gigantische Zahl für das High-End-Segment.
Rolls-Royce Wraith mit zwei Metern Breite
So viele werden es vom Wraith kaum werden, schon deshalb nicht, weil die Tempo-Junkies unter den Gutbetuchten bei Rolls Royce keine volle Befriedigung finden können. Eisern hält das Unternehmen daran fest, die Höchstgeschwindigkeit auf 250 km/h zu begrenzen, egal wie viel technisch möglich wäre. Und dass beim Wraith deutlich mehr möglich wäre, kann man sich gut vorstellen, leistet doch der Zwölfzylinder-Doppelturbomotor noch einmal rund 60 PS mehr als beim Ghost. 632 Rösser sind es genau, die hier vorgespannt werden.
Wie nicht anders zu erwarten, beeindruckt der Wraith durch seine dramatischen Dimensionen. Mit 5,27 Metern von Burg zum Heck ist er länger als gestreckte Oberklassen-Limousinen deutscher Premium-Marken. Ein Leergewicht von 2360 Kilogramm rückt ihn auf der Waage in die Nähe ausgewachsener SUV. Der Radstand von 3,11 Metern sorgt dafür, dass Passagiere auf den rückwärtigen Einzelsesseln entspannt Platz nehmen können. Auch die Kopffreiheit ist für ein Fahrzeug dieser Bauart erfreulich üppig. Dass edle glänzende Hölzer, viel Chrom und handschuhweiches Leder den Innenraum schmücken, ist hingegen keine Überraschung. Weniger als allerhöchsten Komfort kann die Marke ihren Kunden schon aus Imagegründen nicht zumuten. Damit man in all dem Gepränge das Anschnallen nicht vergisst, wäre auch auf den Rücksitzen eine Belegungserkennung nebst Warnton wünschenswert.
BMW hilft mit
Als Teil des BMW-Konzerns kann Rolls Royce auf die technischen Ressourcen der Bayernmarke vertrauen. Sie manifestieren sich im Bedienkonzept der Bordelektronik, in der Verwandtschaft der Navigations-Grafiken, aber auch im "Made-in-Germany"-Stempel auf dem Zigarrenanzünder. Der seitens BMW auf sechs Liter Hubraum ausgelegte Zwölfzylinder wird im englischen Goodwood auf 6,6 Liter gebracht, die Turbo-Aufladung verhilft ihm zu einem Lkw-tauglichen Drehmoment von 800 Newtonmetern. Die ZF-Achtgangautomatik hat damit kein Problem, sie schaltet ebenso komfortabel und geschmeidig wie in anderen Fabrikaten. Nur bietet Rolls Royce die Besonderheit an, dass die elektronische Getriebesteuerung sich an Positionsdaten des Fahrzeugs und dem Fahrstil des Lenkers orientieren kann.
Die satellitenunterstützte Steuerung nutzt GPS-Daten, um zu erkennen, was auch der Fahrer sieht. Kurven, Steigungen oder Gefälle, Ortseinfahrten oder mehrspurige Fahrbahnen werden sozusagen voraus geahnt, indem die exakte Fahrzeugposition zugrunde gelegt und daraufhin der optimale Gang für den voraus liegenden Straßenabschnitt gewählt wird. Daraus resultiert ein Fahrerlebnis, das die Engländer gern "Waftability" nennen und das ein Gefühl der anstrengungslosen Leistungsentfaltung beschrieben soll.
Rolls-Royce Wraith leicht und unaufgeregt
Abhängig vom Straßenbelag ist lediglich das Abrollgeräusch der Reifen hörbar, wenn das Coupé mit Autobahntempo durch die Landschaft gleitet. Das geschieht mit einer derartigen Lässigkeit, dass sich das Getriebe beim kräftigen Tritt aufs Gas zu fragen scheint, ob diese Leistungsanforderung wirklich ernst gemeint sei. Nach Sekundenbruchteilen ist ein dezentes Grummeln vom Heck her vernehmbar und es schiebt mit Macht nach vorn. In jedem Fall empfiehlt es sich, den Tacho im Auge zu behalten, denn aus der Geräuschentwicklung ist kein Rückschluss auf das Tempo zu ziehen.
Der Wraith ist so leicht und unaufgeregt zu chauffieren, dass man Größe und Gewicht leicht vergessen kann. Leistungsengpässe sind ausgeschlossen, da die optimale Durchzugskraft schon ab 1500 Umdrehungen verfügbar ist. Nur selten werden mehr als 50 Prozent der Motorkraft eingesetzt. Darüber informiert die "Power-Reserve"-Anzeige, die den Drehzahlmesser auf originelle Weise ersetzt. Enge Kurvenfolgen meistert der Luxusdampfer genauso souverän wie spontane Richtungswechsel, die Luftfederung kombiniert mit adaptiven Dämpfern sind Garanten eines erhabenen Fahrgefühls. Mit der gleichen Erhabenheit geht der Fahrer an der Tankstelle zur Kasse, denn er weiß, dass er dort ein gern gesehener Gast ist: 14 Liter soll der Wraith nach EU-Norm im kombinierten Verbrauch konsumieren, auf dieser landstraßen-lastigen Ausfahrt waren es 15,6 Liter.
Rolls-Royce Phantom fährt mit
Wenige Tage vor Henry Royce’s Geburtstag starb Karl Marx. Dessen Thesen dürften ihm und seinem Partner Charles Rolls egal gewesen sein, als sie das gemeinsame Unternehmen aus der Taufe hoben und Royce das "Streben nach Perfektion" ("strive for perfection") als Firmenmotto ausgab. Dass die Vollendung der Perfektion auch 2013 noch aussteht, ist irgendwie tröstlich und an einem winzigen Detail des Wraith zu erkennen. Die Taste, die den Kofferraumdeckel automatisch schließt, zeigt die Silhouette eines Rolls Royce Phantom.