14 Jahre nach dem letzten Marktstart hat Rolls-Royce den Phantom erneuert. Im laut der BMW-Tochter besten Auto der Welt ist trotz grandioser Power Entschleunigung Trumpf.
Von Axel F. Busse
Was genussvolles Autofahren sei, wird wohl jeder anders beantworten. Für die einen kann es nicht hurtig genug ums Eck gehen, die anderen räkeln sich lieber im Wellnessbereich einer großzügig möblierten Fondlandschaft. Letzteres auf einem höherem Niveau zu erleben als in einem Rolls-Royce Phantom, ist schwerlich möglich. Deshalb hat sich unser Autor vorübergehend auch an Steuer gesetzt.
Viele Zeitgenossen sehen in ihm wenn schon nicht das Maß aller, so doch der meisten Dinge, die im automobilen Bereich von Belang sind. Der Rolls-Royce Phantom wird überdies vom Hersteller mit einer provozierenden Portion Unbescheidenheit „das beste Auto der Welt“ genannt. Dass es zu den teuersten und seltensten im Straßenverkehr gehört, steht außer Frage. Und wenn es nur alle 14 Jahre ein neues Modell gibt, so wie gegenwärtig, dann ist sein Erscheinen ein Medienereignis. Selbst Päpste wechseln zuweilen öfter.
Rolls-Royce misst 5,76 Meter in der Länge
Schauplatz dieser ersten Ausfahrt ist die Gegend um den Vierwaldstätter See. Die Schweiz kann als eine Art natürliches Biotop für die Spezies Rolls-Royce angesehen werden. Voriges Jahr kam dort ein neu zugelassenes Fahrzeug auf 187.000 Einwohner, in Deutschland war das Verhältnis im gleichen Zeitraum eins zu 410.000. Die Rolls-Royce-Dichte bei den Eidgenossen war damit rechnerisch fast zweieinhalb Mal so hoch wie hierzulande.
Hilfreich ist es, sich dem 5,76-Meter-Koloss nicht nach den Kriterien gewohnter Automobil-Bewertung zu nähern. Die Kunden tun es auch nicht. Tatsache ist, dass der überwiegende Teil der Phantom-Besitzer nur geringes Interesse daran hat, den Wagen selbst zu lenken. Das ist Aufgabe des Chauffeurs, den Rolls-Royce durch Weglassen von 18 Millimetern Fahrzeuglänge davor bewahrt hat, für den Betrieb in China einen Lkw-Führerschein machen zu müssen.
Ikonen für The Gallery
Die Eigner dieser Asphalt-Yachten schauen lieber nach, ob die Kühlbox zwischen den Fondsesseln den dort verstauten Champagner zuverlässig auf Temperatur hält. Die meisten wissen nicht einmal, was ihr Phantom gekostet hat, weil für so profane Tätigkeiten wie das Begleichen von Rechnungen ihr Personal zuständig ist. Aufmerksam geprüft werden dagegen das Vorhandensein und die handwerkliche Ausführung von Sonderwünschen.
Der neue Phantom hält dafür eine einzigartige Spielwiese bereit. „The Gallery“ ist eine ca. 80 Zentimeter breite und zehn Zentimeter hohe Fläche im Armaturenbrett, die mit künstlerischen Hervorbringungen jedweder Art gefüllt werden kann. Reliefs, Bilder, Collagen, Schnitzereien oder was immer der Besitzer dort zu betrachten trachtet. Besser, wenn der Kutscher den Weg kennt. In voller Schönheit bleibt das Werk unterwegs nur dann vollkommen sichtbar, wenn der Navigationsmonitor versenkt ist.
571 PS für 2,5 Tonnen
Ein zentraler Begriff des Marketing-Vokabulars bei Rolls-Royce ist „effortless“, anstrengungslos. Dass die Bereitstellung von 420 kW / 571 PS anstrengungslosen Vortrieb für eine Masse von mehr als 2,5 Tonnen gewährleistet, ist leicht vorstellbar. Der Tritt aufs Gaspedal lässt dem Auslöser noch einen Wimpernschlag Bedenkzeit, ob die folgende Urgewalt der Beschleunigung tatsächlich gewünscht ist.
Doch „effortless“ dient auch als Begründung für den Verzicht auf technische Merkmale. Ein einstellbares Fahrwerk und verschiedene Dämpfungsmodi hätten, so die Erklärung, den anstrengungslosen Charakter höchst komfortabler Beförderung womöglich beeinflussen können. Niemand muss oder kann etwas einstellen, alles funktioniert automatisch und das auch gleich mit den voluminösesten Luftfederungs-Bälgen, die je im Pkw-Bau Verwendung fanden.
Rolls-Royce Phantom zwischen Tradition und Moderne
Die Besonderheit einer Selbst-Fahrt im Phantom geht nicht allein von der Tatsache aus, stets die wohl berühmteste Kühlerfigur der Automobil-Geschichte im Blickfeld zu haben. Das bewusst etwas altbackene Design des Lenkrades, das zwar einen etwas dickeren Kranz bekommen, aber immer noch einen Durchmesser von 42 Zentimetern hat, trägt einen gehörigen Teil dazu bei. Dazu kommt, dass die Lenkunterstützung enorme Kräfte entfalten muss, um die Vorderräder mit dem rund 310 Kilogramm schweren Zwölfzylinder dazwischen beweglich zu halten. An Sensibilität und Präzision fehlt es der Lenkung nicht, wohl aber an Rückmeldung und der Fähigkeit, ein Gefühl von Nähe zur Fahrbahn aufzubauen. Die in der Entwicklungsphase intensiv diskutierte Idee eines Allradantriebes wurde wieder verworfen, weil sie zusätzliche 80 bis 90 Kilogramm ungefederte Masse auf die Vorderachse geladen hätte.
Dass der Wagen sich dennoch recht wendig anfühlt, ist den bis zu einem Einschlagwinkel von drei Grad mitlenkenden Hinterrädern zu verdanken. Den seidenweichen Lauf des Sechsdreiviertelliter-Zwölfzylinders erlebt man dagegen am anschaulichsten im Stand: Deckel öffnen und eine Münze hochkant auf die Domstrebe über der Motorabdeckung stellen.
Müdigkeitserscheinungen fast unausweichlich
Demjenigen, der das Gehalt des Chauffeurs bezahlt, können solche Attraktionen aber herzlich egal sein. Viel mehr sollten er oder sie darauf achten, dass der Fahrer stets genügend Schlaf bekommt. Die Überlandfahrt mit dem Phantom ist nämlich derart anstrengungslos (da ist es wieder!), dass Müdigkeitserscheinungen fast unausweichlich sind.
Tiefenentspannt genießt man die Geräuscharmut hinter sechs Millimetern dickem Verbundglas, das gelegentliche Surren eines der rund 100 elektrischen Stellmotoren oder die lautlose Tätigkeit von 48 sogenannten Controllern, die als Steuereinheiten die elektronischen Segnungen in der Balance halten. Ganze 1344 LED-Leuchtpunkte im Dachhimmel sind neuerdings einzeln ansteuerbar, so dass außer Firmenlogos dort bei Bedarf auch Sternbilder wie Cassiopeia oder Pegasus visuell nachgebildet werden könnten.
„Fairer Startpreis“ für Rolls-Royce Phantom
Den Besitzern volkstümlicherer Gefährte mag es tröstlich erscheinen, dass sich auch ein Pantom hier und da verhält wie ein ganz normales Auto. Nach heißer Kurvenfahrt am Berg sind auf dem Parkplatz knisternde Abkühlgeräusche aus der Abgasanlage zu vernehmen, der Boden des plüschig ausgelegten, um 88 Liter vergrößerten Kofferraums ist von den darunter liegenden Nachschalldämpfern mollig angewärmt. Für Neulinge im Fond eines Phantoms hält die Luxuskalesche noch ein Überraschungsmoment bereit: Wenn der Fahrer die dynamischen Qualitäten vorführt und die Knie der Rückraum-Passagiere der Zentrifugalkraft folgend nach außen drängen, können sie die in den Türverkleidungen sitzenden Tasten des Sitzmemories auslösen.
Einen „fairen Startpreis“ hatte Rolls-Royce-Chef Torsten Müller-Ötvös den Kunden anlässlich der Weltpremiere Ende Juli in London versprochen. Exakt 446.250 Euro sind es in Deutschland für den Phantom „von der Stange“, der selbst ohne verwirklichte Sonderwünsche landläufige Prunk-Phantasien in den Schatten stellt. Mit verlängertem Radstand werden daraus 535.500 Euro. Das Bemühen der BMW-Tochter, „die Marke hochgradig exklusiv zu halten“ (Müller-Ötvös) darf damit als erfüllt gelten.