Die Nachrichten in Deutschland sind voll von ihnen, die Straßen (noch) nicht: chinesische E-Autos. Deshalb haben wir eines davon getestet: die Limousine BYD Seal.
Etwa 34.000 chinesische Autos wurden 2023 hierzulande neu zugelassen. Das ist in etwa so viel wie Audi von seinem Modell A3 im gleichen Zeitraum neu in den Verkehr brachte. Deutsche Kunden fremdeln also noch etwas mit Marken wie BYD, Great Wall Motor, MG Roewe oder Lynk & Co. Die aktuelle Diskussion um preistreibende Ausgleichszölle mag daran ihren Anteil haben. Dass es gute Gründe gibt, die Fernost-Importe als ernste Konkurrenz für deutsche Produkte anzusehen, beweisen Mittelklasse-Limousinen wie der BYD Seal.
Erst kürzlich hat das 1995 in Shenzen gegründete Unternehmen Tesla als weltgrößter Hersteller von Elektromobilen abgelöst. Das Modell Seal ist ein elegant gezeichneter Viertürer, dem es nicht an Zutaten aus europäischer Designsprache fehlt. Das ist zum Beispiel der so genannte Hofmeister-Knick an der C-Säule, der über viele Pkw-Generationen hinweg an BMW-, Audi- und Opel-Modellen zu sehen war. Das vertraut anmutende Styling ist kein Zufall, ist doch der langjährige Audi-Chefdesigner Wolfgang Egger für die Gestaltung der BYD-Produkte verantwortlich.
Allradversion mit 530 PS
Mit 4,80 Metern Länge überragt der Wagen beispielsweise einen BMW i4 um 17 Millimeter, die Höhe beträgt mit 1,46 Metern 12 mm mehr als bei dem bayerischen Erzeugnis. Der Luftwiderstands-Beiwert ist mit 0,22 bestechend gering, was letztlich der Reichweite zugutekommt. Trotz der Abrisskante am Kofferraum-Deckel verschmutzt die Heckscheibe leicht, doch der Verzicht auf einen Wischer ist plausibel: Er hätte die flüssige Ästhetik der Karosserie-Linien erheblich gestört.
Der BYD Seal wird in zwei Versionen angeboten. Für diesen Test stand die Allradvariante mit zwei E-Motoren zur Verfügung, die zusammen 390 kW (530 PS) auf die Straße bringen. Doch die Versuchung, das enorme Beschleunigungsvermögen (0-100 km/h in 3,8 Sekunden) immer wieder heraus zu fordern, hält sich in Grenzen. In der dank serienmäßigem Panorama-Glasdach angenehm hellen Kabine herrscht eine so entspannte Atmosphäre, dass die Gewissheit ausreicht, beim Ampel-Duell so gut wie keine Gegner fürchten zu müssen.
All-Inklusive-Strategie
Was die Ausstattung angeht, fährt der chinesische Hersteller eine grundsätzlich andere Strategie als zum Beispiel die deutschen Premium-Marken. Anstelle umfänglicher Listen mit diversen Paketen und Einzel-Optionen sind bei BYD die Fahrzeuge grundsätzlich nahezu komplett ausgestattet. Die beiden angebotenen Versionen „Design“ und „Excellence“ unterscheiden sich nur in der Art des Antriebs (Hinterrad- oder Allrad), die Leistung und das Head-Up-Display. Einzige Wahlmöglichkeit und ggf. mit Aufpreis verbunden ist die Farbe des Außenlacks. Dies bringt in der Produktion erhebliche Kostenvorteile, für die Kunden erübrigt sich die Suche nach dem Angenehmen oder Nützlichen, weil man sich darauf verlassen kann, dass es sowieso alles Wesentliche an Bord ist.
Excellence-Variante im Testbetrieb verfügt ab Werk zum Beispiel über Panorama-Glasschiebendach, LED-Scheinwerfer und Alufelgen, beheiz- und belüftbare Vordersitzen, 360-Grad-Kamera, Spurhalte-, Totwinkel- und Tempo-Assistenten, Ambiente-Beleuchtung, Leseleuchten vorn und hinten, Ausparkhilfe, Verkehrszeichen-Erkennung und diversn andere Sicherheits- und Komfort-Features. USB-Buchsen sind ebenfalls reichlich vorhanden, nur sitzen die vorderen schlecht zugänglich im Ablageraum unter der Mittelkonsole. Das hätte man besser hinbekommen können.
Elektrisch schwenkbares Touchscreen
Einen besonderen Clou bietet das mit hoher Materialanmutung sauber und harmonisch gestaltete Cockpit: Der 15,6 Zoll große Bildschirm ist schwenkbar, so dass man Ablesung und Bedienung nach Gusto im Hoch- oder Querformat vornehmen kann. Die Menüführung ist etwas gewöhnungsbedürftig und verschachtelt, auch die kreisrunden Schaltflächen anstelle der üblichen Kacheln erscheinen zunächst fremd, jedoch ist der Aufbau logisch und leicht zu erfassen.
Oben rechts auf dem Display kann eine Grad-Angabe zu Missverständnissen führen: Es handelt sich nicht um die Außentemperatur, sondern um die Neigung des Fahrzeugs am Berg oder auf der Gefällstrecke. Ob die Klimaanlage tatsächlich ein halbes Dutzend Luftverteilungs-Modi mit animierter Grafik auf dem Hauptmonitor braucht, sei dahingestellt. Die Bedienung für die Sitzheizung sollte auffälliger platziert sein, denn da sie in den Tiefen des Display-Menüs steckt, könnte sie auch dann den Beifahrersitz erwärmen, wenn dieser gar nicht benutzt wird.
Von der Kartengrafik des Navi-Systems wünschte man sich etwas mehr Detailtiefe, denn zum Erstaunen des Testers waren vereinzelt Gewässer oder andere vertraute Landmarken nicht verzeichnet. Der Platz für die Passagiere ist auskömmlich, vorn ist die Kabine zwischen den Türverkleidungen 1,48 Meter breit, hinten immerhin 1,43 m. Die Ladekante ist mit 67 Zentimeter erfreulich niedrig und im Kofferraum sind 400 Liter Volumen nutzbar. Unter der Fronthaube ist noch ein Frunk von 53 Litern zu finden.
Hochsensibles Fahrpedal
Wie die enorme Kraft von 670 Newtonmetern Drehmoment an beiden Achsen zerrt, ist schon bei geringster Berührung des Fahrpedals zu spüren. Dass 390 kW Leistung mit rund 2200 Kilo Leergewicht keine Probleme haben, liegt auf der Hand. Der Vortrieb soll laut Datenblatt bei 180 km/h abgeregelt sein, der Testwagen schaffte GPS-gemessene 186 km/h. Der Hersteller gibt die kombinierte Reichweite mit 520 Kilometern an, was auch dem Testergebnis entspricht. Bei Auffüllen des Testwagens mit nur maximal 84 kW Ladeleistung betrug der Zugewinn an Reichweite innerhalb von 30 Minuten fast 180 km. Im Idealfall lässt sich nach Herstellerangaben der Akku in 37 Minuten von 10 auf 80 Prozent laden.
Der Fahrkomfort ist weitgehend frei von Auffälligkeiten, jedoch lässt das Federungs- und Dämpfungsverhalten auf Kopfsteinpflaster und anderen herausfordernden Belägen noch Wünsche offen. Dort fühlt es sich leicht rumpelig an und es klingt auch so. Die Lenkung ist ausreichend präzise und sogar in der Rückmeldung einstellbar. Das Manövrieren fällt wegen der guten Übersichtlichkeit und der hilfreichen Sensoren leicht. In der Summe liefert die Seal-Limousine einen positiven Gesamteindruck, der wegen seiner umfangreichen Ausstattung auch Premium-Ansprüchen genügen kann. Und das bis auf Weiteres ab 44.990 Euro.