Der Bentley Flying Spur zählt zu den besten Luxuslimousinen weltweit. Für einige ist sie sogar das Maß der Dinge. Die neue Generation feiert ihre Premiere in Peking. Kein Wunder, denn gerade in China soll Absatz gemacht werden.
Von Axel F. Busse
Vor zehn Jahren gewann ein Bentley das 24-Stunden-Rennen von Le Mans. Heute geht es auch um einen langen Atem, nur auf einem anderen Sektor. Die britische Traditionsmarke will ihre Verkaufserfolge auf dem chinesischen Markt stabilisieren. Deshalb stellt sie ihre neue Luxuslimousine „Flying Spur“ in Peking vor.
Das neue Auto ist fast so schnell wie der Le-Mans-Sieger von ehedem, ist aber gut doppelt so schwer und hat obendrein vier Türen. Ebenso wie vor zehn Jahren steckt viel deutsche Hard- und Software unter der Karosseriehaut. Hardware in Form von Motor und Getriebe, Software in Gestalt von Ingenieurleistung, die „die beste Luxuslimousine der Welt“ bauen will.
China als wichtigsten Absatzmarkt
Mehr als 20.000 Einheiten wurden weltweit vom Vorgänger des Flying Spur abgesetzt. Beim Hersteller geht man davon aus, dass künftig rund 60 Prozent der Flying-Spur-Produktion im Reich der Mitte gekauft werden. Der Wohlstand wächst auch anderswo, das zeigen die Verkaufszahlen der Marke. Bei dem englischen Luxuswagen-Hersteller fallen die Quartalswechsel wieder zuverlässig mit immer neuen Absatzrekorden zusammen. 2012 wurden weltweit so viele Bentleys verkauft, wie nie zuvor, im ersten Vierteljahr 2013 stieg der Absatz nochmals um 25 Prozent.
Seit 1998 ist die Firma im Besitz des deutschen Volkswagen-Konzerns. Was „very british“ an den Produkten der Traditionsmarke ist, wird letztendlich in Wolfsburg festgelegt. Ein bisschen Stolz und Extravaganz wirken als Eigenschaften glaubhaft, ganz sicher Fairness, gute Manieren und wohl auch eine Prise Unvollkommenheit. Die Eigenschaft „Stolz“ erfüllt das neue Auto ohne jeden Zweifel, denn es ist 5,29 Meter lang und 2,5 Tonnen schwer. Edles Holz und geschmeidiges Leder sind darin in einer Menge verbaut, dass man daraus fast eine Polstergarnitur nebst Couchtisch machen könnte.
Die Frage, ob der Luxusathlet nun ein wirklich neues Fahrzeug oder „nur“ ein Facelift sei, ist rein akademischer Natur. Nachzählbar sind laut Bentley die rund 600 Neuteile, sichtbar ist die viel harmonischere und eigenständige Gestaltung der Karosserie, wo eine kräftige Schulterpartie an der C-Säule andockt und in den neuerdings aus Verbundwerkstoff gefertigten Kofferraumdeckel übergeht. Er ist mitverantwortlich für die rund 50 Kilogramm Gewichtsersparnis gegenüber dem Vorgänger, was aber von Bentley zu Recht nicht als großer Durchbruch gefeiert wird, sondern eher als Kollateral-Nutzen der Verwendung modernen Baumaterials. Der cW-Wert von 0,29 spricht für ausgefeilte Aerodynamik.
Ein Hauch von Snobismus
Wer nach Extravaganz sucht im Flying Spur braucht sich nicht lange umzuschauen. In Form einer smartphone-ähnlichen Fernbedienung für Klima- und Entertainment-Funktionen ist sie offenkundig. Oder ist es gar schon snobistisch, den Getränkehalter an der Mittelkonsole mit einer Brillenschatulle zu verschließen, deren Oberschale das erlesene Furnier des Armaturenbretts spiegelt? Die ganze Pracht eines mittelenglischen Adelssitzes ist hier in handgenähte Lenkradbezüge, verchromte Ausströmerhebel und ein gekühltes Getränkefach zwischen den Fond-Sesseln destilliert. Die komplette elektrische Verstellbarkeit analog zu den Vordersitzen ist für diese Fauteuils natürlich obligatorisch.
Zur Fairness des englischen Edelmannes gehört, dass man sagt, wen man anzugreifen gedenkt. Und womit. Die durch vergleichbar große Motoren angetriebenen Rolls-Royce Ghost zum Beispiel oder der Mercedes S-Klasse, auch Sport-Limousinen vom Schlage eines Aston Martin Rapide oder Maserati Quattroporte. Mittel zum Zweck ist ein Sechsliter-Zwölfzylindermotor in extrem kurz bauender W-Anordnung. 625 Pferde werden von einem Achtgang-Getriebe gebändigt.
Sind sie von der Longierleine gelassen, kriegt der Flying Spur Flügel und stürmt auf 322 km/h – Weltrekord für Viertürer. „Anstrengungslose Beschleunigung“ hat Bentley als Markenwert definiert, mit 800 Newtonmeter Drehmoment klappt es überzeugend. Ab 190 km/h fängt das Fahrwerk selbstständig an, die Bodenfreiheit zu verringern, das senkt den Luftwiderstand. Gemessen an Gewicht und Leistungskraft erscheinen 14,7 Liter Normverbrauch durchaus akzeptabel, wenngleich auf der Teststrecke trotz verhaltener Fahrweise 16,5 Liter nicht zu unterbieten waren.
Sportliche Leistungsdaten
Selbst der Spurt auf 100 Stundenkilometer in unter fünf Sekunden geht so dezent und unaufdringlich von statten, dass an den guten Manieren nicht zu deuteln ist. Der Sherwood Forest früh morgens im drei dürfte kaum geräuschärmer sein, als der Innenraum des Flying Spur bei Autobahntempo. Obwohl die meisten China-Kunden ihren Bentley vom Chauffeur bewegen lassen dürften, ist die neue Limousine ein Selbstfahrerauto mit sportlichem Charakter. Eine nur geringe Spreizung zwischen den Dämpfereinstellungen „komfortabel“ und „hart“ ist Beleg genug dafür. Der „fliegende Teppich“, den andere für sich reklamieren, ist der Flying Spur gewiss nicht, sondern ein fahraktives Auto, dessen Größe und Gewicht hinter spontanem und leichtfüßigem Handling verschwinden. Wer als Fondpassagier sowohl auf akustische, als auch auf optische Abgeschiedenheit von der Umwelt Wert legt, bedient sich der in den Türen und in der Heckscheibe versteckten elektrischen Jalousien.
Der vollkommene Edel-Renner also? Zum Glück nicht. Das Navigations-System des ersten Flying Spur war dem Komfort-Anspruch der Marke nicht gewachsen. Das neue ist besser. Vorbildlich in Sachen Informations-Niveau und Bedienbarkeit ist es freilich noch nicht. Doch zum Beispiel ein Audi A8-System zu adaptieren, statt auf Phaeton-Level zu verharren, hätte wahrscheinlich den Kostenrahmen der Neuauflage des Bentleys gesprengt. Zu den mit einem Schmunzelns quittierten Unvollkommenheiten gehört das Funktionssymbol auf der Taste für die Dämpfereinstellung: Es zeigt die Silhouette eines Bentley Continental GT. Ein kleiner Schnitzer, aber außer Frage steht, dass es diese Kombination aus Komfort und Tempo so kein zweites Mal auf der Welt gibt. 161.000 Euro sind in Europa mindestens fällig, Mehrwertsteuerzahler in Deutschland müssen noch mal 30.590 Euro zusätzlich drauflegen.
Legt man die eingangs aufgestellten Kriterien zugrunde, so darf der neue Zwölfender aus Crewe in vollem Umfang als „very british“ gelten. Dort wird immer wieder gern betont, dass sich „die Entwicklungshoheit“ im englischen Stammsitz des Unternehmens in Crewe befinde. Teutonische Gestaltungskraft bricht sich unterdessen im verborgenen Bahn: am Zigarrenanzünder zum Beispiel. Dort prangt der Schriftzug „Made in Germany“.