Beim vollelektrischen Q6 e-tron hat sich Audi auf alte Tugenden besonnen. Das funktioniert ohne Härte und Kraftmeierei, hat aber seinen Preis.
Vorsprung beginnt im Kopf … oder genauer gesagt: Am Kopf. Im neuen Audi Q6 e-tron nämlich kommen die Navigationsansagen für den Fahrer aus einem Lautsprecher in der Kopfstütze. Ein Technik-Feature, das einen echten Komfort-Gewinn bringt – nicht zuletzt auch für die anderen Reisenden, die wahrscheinlich weniger interessiert an den Fahranweisungen sind.
Die Audi-Ingenieure haben sich hörbar und sichtlich Mühe gegeben, ihrem elektrischen Hoffnungsträger durch Ideen wie diese wieder das besondere Stück Detailverliebtheit fühlen zu lassen, das die Marke einst groß gemacht hat. In den vergangenen Jahren war das bei Premieren zuweilen deutlich weniger zu spüren. Bei ersten Fahrten mit den allradgetriebenen Varianten zeigt das Mittelklasse-SUV, dass sich das lange Warten auf das in dieser Version knapp 75.000 Euro teure Fahrzeug gelohnt hat.
Klassisches Limousinengefühl
Die präzise Navigation – unterstützt von gestochen scharfen Augmented-Reality-Grafiken des Head-up-Displays – ist nicht der einzige Wohlfühl-Faktor. Der 2,35 Tonnen schwere, 4,77 Meter lange und 1,65 Meter hohe Wagen lässt die Passagiere seine wuchtigen Maße schnell vergessen. Stattdessen stellt sich am Steuer eher klassisches Limousinengefühl ein, fast wie ein Audi A6 e-tron, der dem SUV ja auf der gleichen Basis folgen wird. Der Q6 jedenfalls umgibt den Fahrer wie ein Kokon, der Beifahrer kann sich derweil am eigenen optionalen 10,9 Zoll großes Display unterhalten.
Wenn der Mensch am Steuer dabei keine übertrieben sportlichen Ambitionen hat, geht es für alle Reisenden stets so magenschonend wie dynamisch voran. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Kraft ist in beiden Ausführungen überreichlich vorhanden. Schon der Q6 e-tron bietet 285 kW (387 PS) und beschleunigt in weniger als sechs Sekunden von Null auf 100 Stundenkilometer. Die sportliche Version SQ6 e-tron bringt es sogar auf 380 kW (516 PS) und schafft den Sprint in nur 4,3 Sekunden. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 210 und im SQ6 sogar 230 km/h. Wer noch mehr need for speed hat, kann sich bald einen RS mit noch mehr Dampf kaufen – oder schon jetzt den Porsche Macan mit den gleichen Genen ordern.
Hochpräzise Lenkung
Aber im Audi kommt es den Schöpfern auf reine Kraftmeierei eben erkennbar nicht an. Es geht um Kultur, Qualität und Komfort, gepaart mit Sportlichkeit. Den Mix bekommen die Macher überzeugend hin. Da wankt und nickt auch in schnell durchfahrenen Kurven oder auf ruppigerem Geläuf nichts. Stets ist die Kraft aus den beiden Motoren, asynchron vorn und permanenterregt an der Hinterachse, erlebbar. Die Lenkung reagiert hochpräzise und mit genau dem richtigen Widerstand. Alle Assistenzsysteme arbeiten sehr akkurat, gerade auch im Zusammenspiel mit präziser Verkehrszeichenerkennung und Navi-Daten ein echter Gewinn an Fahrkomfort.
Das Zusammenspiel der Antriebskomponenten, Lastverteilungen oder Eingreifen all der Sensoren bleibt am Steuer unmerklich. Der Q6 e-tron surrt einfach, wohin der Weg ihn führen soll. Eine Luftfederung passt sich in Millisekunden den Fahrbedingungen an und beweist gerade im Vergleich zu seinem Konzernbruder Macan, dass dynamisch auch ganz ohne Härte geht. Beispielhaft lässt sich die Symphonie der Systeme beim Rekuperieren des Audi erleben: Der Antrieb holt sich besonders viel Energie aus der Verzögerung zurück. Bis zu 220 kW fließen beim Bremsen zurück in den Akku. 95 Prozent der Bremsvorgänge werden so allein durch Rekuperation abgedeckt.
Bei gemischtem Verkehr hat sich der Q6 e-tron bei frischen 15 Grad Außentemperaturen etwas über 21 kWh genehmigt, der stärkere SQ6 rund 25. So sollten mehr als 450 Kilometer Reichweite im Normalbetrieb realistisch sein, Gasfuß-Akrobaten mögen sogar mehr als 600 Kilometer erreichen. Das Nachladen geht stets dank 800-Volt-Technologie, die eine maximale Ladeleistung von 270 kW ermöglicht, rasant vonstatten. So kann der Akku in zehn Minuten genug Energie für 255 Kilometer speichern.
Auf allen Sitzen reichlich Platz
Der langen zügigen Reise steht also wenig im Wege – und die inneren Werte machen darauf auch Lust. Auf allen Sitzen ist dank 2,90 Radstand reichlich Beinfreiheit, das Gestühl ist zudem nicht zu straff, die Materialien rundum höchst ansehnlich; so fassen sie sich auch an. In einem Fahrzeug für mindestens 74.700 Euro (SQ6: 93.800) sollte das wohl auch so sein. Das Cockpit ist schick, aber nicht zu verspielt. Im Mittelpunkt steht ein gebogenes Panoramadisplay: Es umfasst ein 11,9 Zoll großes Zentraldisplay und einen 14,5 Zoll großen Touchscreen für das Infotainment.
Sehr gut arbeitet auch die Spracherkennung. ChatGPT und andere Komfort-Features werden inzwischen auch bei Audi over-the-air nachgereicht. Gern auch im Abo: Die „Sound-Revitalisierung“ im auch sonst nicht schwachbrüstigen Soundsystem kostet dort etwa einen Euro pro Monat, mehr Wumms aus dem Bass noch einmal drei Euro. Das mag denn doch gemischte Gefühle hinterlassen bei einem Käufer, der bereits zuvor sechsstellig in seinen SQ6 mit ein paar Extras investiert hat. Aber vielleicht ist das auch einfach die neue Autowelt?
Wer einfach nur ein wirklich gutes Reisefahrzeug mit stets mehr als ausreichenden Fahrleistungen haben möchte, sollte sich die fast 20.000 Euro Aufpreis des SQ6 sparen – oder gleich auf den Herbst warten. Dann gibt es den Q6 auch als reinen Hecktriebler mit der missverständlichen Bezeichnung „Performance“, der noch einmal fast 6.000 Euro günstiger ist als der billigste Quattro. Und in Sicht ist auch eine Ausführung mit kleinerer 83-kWh-Batterie. Die dürfte das SUV noch mal erheblich erschwinglicher machen. (SP-X)