Der Anspruch des Audi RS e-tron GT ist hoch: Zum einem will er sich auf Augenhöhe mit einem Tesla bewegen, zum anderen will er mehr sein als ein Porsche Taycan mit vier Ringen.
Die Abgrenzung vom Elektro-Sportwagen aus Zuffenhausen ist deshalb eine besondere Herausforderung, weil im e-tron GT rund 60 Prozent Gleichteile verbaut sind. Die Produktionsstätten liegen nur rund 50 Kilometer auseinander, denn Audis Viertürer wird nicht in Brüssel wie das e-tron-SUV, sondern im Werk Böllinger Höfe in Neckarsulm gebaut. Genau wie der Audi R8, und zwar auf derselben Fertigungsstraße.
So treffen die manuellen Tätigkeiten des weitgehend in Handarbeit gebauten R8 mit den virtuell geplanten und fast vollständig automatisierten Abläufen des e-tron GT auf innovative Weise zusammen. „Montagehilfen aus dem 3D-Drucker“, sagt Produktionsleiter Wolfgang Schranz, „erweisen sich schon jetzt als großer Gewinn“.
Zwei Hochleistungs-Pkw auf einer Linie
-Die gemeinsame Produktion zwei grundverschiedener Hochleistungs-Pkw ist deshalb bemerkenswert, weil der Zwei- und der Viertürer außer überbordender Antriebskraft nur wenig gemeinsam haben.
Zwar entfallen die beim R8 nötigen verbrenner-spezifischen Bauteile wie etwa Antriebs- und Getriebe-Komponenten auf der Seite des e-tron GT, anders herum sind stattdessen aber elektrotypische Anteile wie etwa die aus 396 Zellen bestehende Hochvoltbatterie, das umfangreiche Kühlsystem und die Lade-Ausstattung zu integrieren.
Erste Fahreindrücke von Prototypen
„Der Porsche Taycan ist nicht wirklich ein Wettbewerber für unser Auto“, sagt Victor Underberg. Er ist Leiter Technische Entwicklung bei der Audi Sport GmbH in Neckarsulm. Die Kollegen aus Zuffenhausen hätten ihr Produkt klar sportlicher positioniert und es spreche einen anderen Kundenkreis an als der e-tron GT. Dessen Kürzel, das für „Gran Turismo“ steht, soll eine Synthese aus Eleganz, Komfort und Dynamik symbolisieren. Rund die Hälfte der Produktion, so schätzt man bei Audi, werde nach Nordamerika gehen, in Europa wird außer dem Heimatmarkt Norwegen ein Schwerpunkt sein.
Mit wohldosierten Häppchen füttert Audi die Öffentlichkeit, wenn es um Informationen über die neue E-Flunder (der Wagen ist nur 1,38 Meter hoch) geht. Für sieben in Ingolstadt zugelassene, noch teil-getarnte seriennahe Prototypen wurden unlängst am Rande Europas Testfahrten mit Motorjournalisten organisiert – nicht nur wegen Corona ein anspruchsvolles Unterfangen, sondern auch wegen der Verfügbarkeit von Ladekapazität für ein 800-Volt-Antriebssystem, die man in einem Ferienhotel auf einer Urlaubsinsel nicht unbedingt voraussetzen kann. Ein großes Geheimnis wird derzeit noch um den Innenausbau gemacht, präzise genähte Stoffabdeckungen vereitelten den Blick auf Armaturenbrett, Monitore, Bedienelemente und Konsolen.
Wenn 2021 die Markteinführung erfolgt, können die Kunden zwischen zwei Varianten wählen. Ergänzend zum e-tron GT wird es eine „RS“-Version geben, dessen rund 700 Kilogramm schweres Batteriepaket anstatt 83,7 Kilowattstunden 93,4 kWh Kapazität hat. Das soll für 400 km Reichweite genügen. Nach rund 120 Testkilometern in zügigem Tempo und einem vom Bordcomputer errechneten Durchschnitts-Verbrauch von etwa 23,5 kWh ist das als realistisch anzusehen.
Dragster-Show auf nächtlichem Flugfeld
Auf Show-Effekte sollte gefasst sein, wer die Präsentationen von High-End-Erzeugnissen aus dem Hause Audi beobachten kann. In Dragster-Manier über ein nächtliches Flugfeld zu jagen mag nicht jedermanns Sache sein, doch das brachiale Beschleunigungsvermögen des e-tron GT über die klassische Viertelmeile zu erleben, ist ein Kick aus dem Feinkostregal.
Nach knapp zwölf Sekunden ist der Spuk vorbei, beim Passieren der Lichtschranke hat das Fünf-Meter-Schiff rund 220 Stundenkilometer drauf. Dabei wirken 175 Kilowatt Leistung (238 PS) des vorderen E-Motors auf die Frontachse, mit 455 PS schieben die Hinterräder an. Allerdings kann die Steuerungselektronik die Kraft je nach Bedarf auch vollständig auf eine Achse leiten.
Während bei anderen Elektrofahrzeugen eine starre Übersetzung für die Weitergabe der der Motorleistung an die Antriebsräder üblich ist, hat sich Audi für ein Zweigang-Getriebe entschieden. Es soll sicherstellen, dass in der Anfahrphase maximales Drehmoment für die Beschleunigung genutzt werden kann. Dreieinhalb Sekunden, also nur wenig länger, als man zum Aussprechen von „Audi e-tron GT RS“ braucht, vergehen bis zum Erreichen der 100-km/h-Marke. Bei einer Schussfahrt ins finstere Nichts ist solides Vertrauen in die Wirkung der Bremsen angebracht, Audi wird seinen Kunden drei verschiedene Systeme anbieten. Außer den herkömmlichen Stahl- und den optionalen Keramik-Verbundscheiben ist auch noch eine neue Variante im Angebot, bei denen die Scheiben mit hochtemperatur-resistentem Wolframcarbid beschichtet sind.
2,3 Tonnen pure Leichtigkeit
Der Elektro-Athlet kann auch gelassen und entspannt. Wer Gelegenheit hat, ihn über kurvige Bergstrecken zu bewegen, dürfte erstaunt sein über das ausgewogene Fahrverhalten, den Komfort der Luftfederung und die Leichtigkeit, mit der sich ein 2,3-Tonnen-Trumm wieder und wieder um die Kehren zirkeln lässt. Ohne synthetisch zu wirken, vermittelt die leichtgängige Lenkung jederzeit präzisen Zugriff auf die Fahrtrichtung. Da der Fahrzeug-Schwerpunkt dank der Batterie zwischen den Achsen noch näher an der Straße liegt als beim R8-Renner, könnte die Balance kaum besser sein. Akustisch untermalt wird das geschmeidige Gleiten durch ein ausgeklügeltes Soundsystem, das nicht Verbrenner imitieren, sondern eine eigenständige Geräuschkulisse aufbauen soll.
Dass der Neckarsulmer Spitzen-Stromer zum Schnäppchen-Preis zu haben wäre, wird niemand vermuten. 138.000 Euro wird Audi für den e-tron GT RS aufrufen. Schmallippig gibt man sich noch bei der Frage, was denn die Basisversion kosten soll. Dennoch gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die Marke von 100.000 Euro knapp unterschritten wird. Dann wäre der e-tron GT nämlich eine Idee günstiger als der Taycan 4S.