Die BMW R nineT ist begehrt. Wer ein solches Bike haben will, muss sich in Geduld üben. Wer einmal mit ihr unterwegs war, weiß, warum dem so ist. Die Münchner bietet trotz ihrer Reto-Anmutung technische Schmankerl.
Lieferfristen sind bei BMW Motorrad nun wahrlich nicht üblich: Seit Jahren schon ist so gut wie jedes Modell innerhalb weniger Wochen zu haben. Bis auf eines: Für die zur Saison 2014 vorgestellte BMW R nineT hat sich unerwarteter Weise ein solcher Berg an Bestellungen aufgetürmt, dass es aktuell bis „irgendwann im Sommer 2015“ dauern wird, so ein BMW-Händler Ende Oktober, ehe eine jetzt bestellte R nineT voraussichtlich ausgeliefert wird. 54 Exemplare können momentan arbeitstäglich gefertigt werden, mit gerade 40 Einheiten hat man im letzten Winter begonnen.
Die R nineT ist also nach wie vor ein rares und zugleich sehr begehrtes Stück, für das sich auch viele Leute ohne Helm auf dem Kopf interessieren. Kein Tankstopp auf den 2.500 Testkilometern verging und auch kaum ein Ampelhalt, ohne dass wir auf diese sehr spezielle BMW angesprochen worden wären.
Fahrsicher und handlich
Die R nineT ist trotz ihrer Linienführung mit historischen Anklängen kein Retro-Bike. Im Gegenteil: Eine hochwertige Upside-down-Gabel vorne, eine Aluminiumguss-Einarmschwinge neuester Bauart hinten, ein hochentwickelter Zweizylinder-Boxermotor mit einer Literleistung von fast 100 PS, eine Top-Bremsanlage mit radial montierten Bremssätteln und ABS – da ist nix Retro. Die R nineT ist von solcher Geschmeidigkeit und Gefügigkeit, dass es die pure Freude ist. Sie ist darüber hinaus extrem potent, fahrsicher und handlich.
Ins Auge stechen vor allem die vielen hübschen Details, die sich die Entwickler haben einfallen lassen. Der wohlgeformte Tank mit polierten Alu-Seitendeckeln, das BMW-Logo im runden Scheinwerfer, die doppelflutige Edelstahl-Auspuffanlage oder der schön gestaltete Knauf zur Verstellung der Federbein-Vorspannung. Die R nineT ist wirklich „wie aus einem Guss“. Man schaut sie gerne an.
Triebwerk hängt fein am Gas
Ergänzt wird die Freude am Schauen durch die wirklich markante Freude am Fahren dieses Modells. Der luft-/ölgekühlte Boxermotor, in dieser Konfiguration mit zwei obenliegenden Nockenwellen ohnehin erst seit 2010 erhältlich, ist keineswegs überholt, auch wenn alle anderen Boxermodelle inzwischen von einer Neuentwicklung mit Wasserkühlung und 125 PS Leistung angetrieben werden. Das Triebwerk geht fein ans Gas und besticht mit seinem Dampf aus dem Keller; dabei dreht er auch oberhalb von 6.000 Touren hurtig in Richtung Drehzahlbegrenzer.
Der „alte“ Boxer mit seinen 81 kW/110 PS genügt angesichts von nur 222 Kilogramm Leergewicht für exzellente Beschleunigung: Nur 3,5 Sekunden werden benötigt, um das Landstraßenlimit von 100 km/h zu überschreiten. Die mögliche Spitzengeschwindigkeit von über 200 km/h ist bei einem Roadster, der ja keine Verkleidung aufweist, ohnehin Theorie. Man wird es, selbst bei Verwendung des sehr gut gemachten Tankrucksacks als Hilfs-Windschutz, zumeist mit etwa 160 km/h bewenden lassen.Sehr angetan waren wir von den Verbrauchswerten des Zweizylinder-Boxers: Je nach Fahrweise flossen auf Land- und Bergstraßen zwischen 5 und 5,6 Liter pro 100 Kilometer durch die Einspritzanlage. Daraus ergibt sich eine Praxis-Reichweite von 340 Kilometern, so dass auch längere Etappen gut möglich sind.
Weich schaltendes Getriebe
Sehr gut arbeitet die gesamte Kraftübertragung. Das Getriebe schaltet sich weich und präzise zugleich, die Lastwechselreaktionen aus dem Kardanantrieb sind nicht störend, solange man nicht in starker Schräglage zurückschaltet, was leidlich erfahrene Piloten aber grundsätzlich vermeiden.
Die R nineT ist prädestiniert für leichtfüßiges Landstraßenwuseln. Diese Erwartung erfüllt sie auch, und zwar ziemlich perfekt. Auch dank des breiten Lenkers lenkt sie leicht in Kurven ein und durchrollt diese dann absolut sicher und harmonisch. Die Schräglagengrenze liegt sehr hoch, der Fun-Faktor ebenso. Des Fahrers Wohlbefinden leidet nur dann, wenn der Untergrund schlecht wird: Dann zeigt sich das Federbein als relativ hart, es lässt grobe Stöße spürbar werden. Über jeden Zweifel erhaben ist die Bremsanlage: Sie beißt gierig zu, Instabilität auch bei voller Verzögerung gibt es nicht. Die Regelungsgüte des ABS überzeugt.
Ausgesprochen einfach ist die Bedienung der R nineT, was auch damit zu tun hat, dass sie viele Ausstattungsdetails nicht hat, die in den letzten Jahren zunehmend für selbstverständlicher gehalten werden. BMW hat seine üblichen Sonderausstattungslisten radikal gekürzt, ab Werk ist die R nineT noch nicht einmal mit Griffheizung bestellbar. Wünscht der Kunde dieses in unseren Breiten sehr sinnvolle Detail, muss der Händler zur Nach- bzw. Umrüstung schreiten.
Nehmerqualitäten gefragt
Fahr- und Sitzkomfort sind einem Roadster angemessen mit der Einschränkung, dass die dünnere Polsterung des sehr gut anzusehenden Custom-Sondersitzes Nehmerqualitäten erfordert. Insofern könnte der Normalsitz für Leute mit Neigung zu längeren Strecken doch eine gute Option sein. Natürlich ist der Fahrtwind ein böser Kerl, insbesondere wenn er nass ist. Aber ein Roadster ist nun mal Motorradfahren pur.
Sehr gut bewährt haben sich der sinnvoll gestaltete, absolut wasserdichte Tankrucksack mit 11 Litern Volumen und auch die raffiniert gestaltete Hecktasche. Diese fasst 40 Liter und wird von hinten auf den Soziussitz aufgeschoben und mittels vier Klett-Laschen am Fahrzeug sicher befestigt. Das veränderbare Volumen der Tasche reicht für einen Wochenendausflug.
Dem von BMW geforderten Preis von 14.500 Euro wird die R nineT voll gerecht; das zeigt nicht zuletzt die Bestell-Lawine. Aber auch der Blick auf die vielen schön gestalteten Details des harmonisch ausschauenden und wunderbar leicht fahrbaren Roadsters lässt den Preis nicht überzogen erscheinen. Zudem ist zu erwarten, dass sich die R nineT als überdurchschnittlich wertstabil herausstellt. Im Internet jedenfalls sind aktuell einige im Frühjahr ausgelieferte Maschinen zum Neupreis ausgeschrieben.