Motorrad-Branche auf Retro-Welle

Historischer Lifestyle

Motorrad-Branche auf Retro-Welle
BMW bietet die R nine T auch als Scrambler an © BMW

Die Motorrad-Branche kramt die „gute alte Zeit“ hervor. Immer mehr Bike sind mit der Optik von gestern unterwegs gepaart mit der Technik von heute.

Jahrelang dominierte die permanent sich drehende Leistungsspirale das Lastenheft der meisten Motorrad-Entwickler: Abgesehen von Harley-Davidson konnte sich kaum ein Hersteller dieser Entwicklung entziehen. Sie ist auch nach wie vor aktuell: Für zahlreiche Kunden sind viele Pferdestärken ein wichtiges Kaufargument. Langsam schiebt sich aber ein zweiter, deutlich leistungsfernerer Trend ins Scheinwerferlicht: Im Zuge der sogenannten Retro-Welle steigt die Zahl der Modelle, bei denen die Optik mit historisierenden Bezügen im Vordergrund steht und die schiere Leistung weniger wichtig ist. Hier rangiert ein neuartiger, an der „guten alten Zeit“ orientierter Lifestyle vor Höchstleistung. Man könnte auch sagen: Mehr Sein als Scheinen – andersherum wäre die Formulierung allerdings auch nicht falsch.

Keine einheitliche Sprachregelung

Eine einheitliche Sprachregelung für die neumodische Rückwärtsbewegung gibt es nicht: BMW wählte zur Einführung der seit Anfang 2014 enorm erfolgreichen R nineT den Begriff „New Heritage“, Ducati spricht bei seiner seit 2015 nicht minder erfolgreichen Scrambler-Baureihe vom „Post Heritage“-Design und Triumph bezeichnet seine klassisch gezeichneten Zweizylinder-Modelle als „Modern Classics“.

Auch Moto Guzzi bemüht neuerdings verstärkt seine über 90-jährige Firmengeschichte und stellt zunehmend mehr Modelle vor, deren Optik sich am Gestern orientiert, während die Technik von heute ist; einen markentypischen Begriff dafür haben die Italiener aber noch nicht geprägt. Als bislang einziger japanischer Hersteller versucht auch Yamaha unter der Marke „Faster Sons“ die Rückbesinnung auf die Vergangenheit: Gemeint ist damit, dass die Söhne heutzutage auf das Erbe der Väter Bezug nehmen und es behutsam fortentwickeln, ohne es allzu sehr zu verfremden.

Triumph gleich mit fünf Bonnie-Varianten

Die Triumph Bonnevielle Street Twin,
Triumph bietet eine große Auswahl bei der Bonneville Triumph

Typische Modelle dieser Verbindung aus moderner Technik und mehr oder minder klassischer Linienführung sind die BMW R nineT mit luftgekühltem 110 PS-Boxermotor und die eben erst vorgestellte BMW R nineT Scrambler mit dem gleichen Motor. Und man würde sich nicht wundern, wenn die Bayern auch noch einen klassischen Café Racer und vielleicht sogar eine Enduro im Stile der 1980 präsentierten G/S nachlegen würden.

Triumph hat für 2016 gleich fünf komplett neu entwickelte Versionen seines erstmals 1956 präsentierten Modells Bonneville auf die Räder gestellt: In vielen optischen Details sowie der Linienführung als Ganzes haben die Engländer sich an der Ur-Bonnie orientiert.

Yamaha setzt auf schnelle Söhne

Ducati hat sich der in den 1960er Jahren für den US-Markt entworfenen Scrambler erinnert und bereits im vergangenen Jahr eine komplette Baureihe dieses Namens vorgestellt. Mittlerweile besteht sie aus fünf Versionen mit luftgekühltem 800er Zweizylindermotor mit 75 PS und einer Variante mit ebenfalls luftgekühltem 400er Zweizylinder. Bei der „Sixty2“ müssen 41 PS reichen. An eine über 50 Jahre alte Scrambler-Version mit Namen „Stornello“ knüpft 2016 auch Moto Guzzi an; das gleichnamige Ur-Modell war von 1960 bis 1974 im Programm der italienischen Marke gewesen. Trotz ihres historisierenden Designs ist die kleine Guzzi mit luftgekühltem 750 Kubik-V2-Motor mit Traktionskontrolle und ABS ein technisch modernes Motorrad, bei dem 48 PS für den Vorwärtsdrang ausreichen.

Yamaha geht bei seinen zwei bisher vorgestellten „Faster Sons“-Versionen XSR 700 und XSR 900 anders vor: Die Japaner nehmen erst jüngst entwickelte, moderne Bikes mit Zwei- und Dreizylindermotor und nutzen deren technische Basis für Retro-Bikes, kleiden diese aber neu ein; diverse Plastikteile werden durch Blech oder auch Chrom ersetzt, eckige Scheinwerfer werden zu runden Leuchten. Die XSR-Modelle wechseln im Grunde nur das Outfit im Vergleich zu MT-07 und MT-09 – nebenbei erhöht sich der Preis. Die Leistung ist gegenüber den Basismodellen unverändert.

Große Auswahl an Zusatzbauteilen

Gemeinsam ist allen genannten Marken, dass man versucht, die Käufer zur individuellen optischen Veränderung dieser Fahrzeuge zu ermuntern („Customizing“). Dazu werden zumeist schon zur Modellpräsentation Zusatzbauteile vorgestellt, die oftmals ohne großen Aufwand montiert werden können. Damit dies technisch einfach, also ohne Schweiß- oder Flexarbeiten möglich ist, hat man bereits bei der Konstruktion der Fahrzeuge vorgesorgt; Heckrahmen werden deshalb nach Möglichkeit nicht angeschweißt, sondern angeschraubt. Besonders beliebte Teile, die verändert oder ausgetauscht werden können, sind Auspuffanlagen, das Fahrzeugheck, Blinker, Spiegel und Lenker.

Nicht minder wichtig ist aber auch die Fahrerausstattung: Alle genannten Marken haben Bekleidungslinien entwickelt, die auf die Retro-Modelle abgestimmt sind. Hemden weisen vorzugsweise eine Art „Holzfäller-Design“ auf, Stiefel sind natürlich aus Leder gefertigt und gerne in etwas gröberem Stil gehalten, um Wertigkeit zu dokumentieren. Das Pure, Wahre und Echte steht hoch im Kurs – seit Sommer 2015 gibt es sogar (in Berlin) ein Festival, das die Aspekte Musik, Lifestyle und (Retro-) Motorrad sowie das Customizing zusammenführt und die Begriffe „Pure“ und „Crafted“ im Titel trägt. Es wird im August 2016 zum zweiten Mal über die Bühne gehen – natürlich wieder in einer Event-Location mit Geschichte, dem alten Postbahnhof. (SP-X)

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Thomas Flehmer
Der diplomierte Religionspädagoge arbeitete neben seiner Tätigkeit als Gemeindereferent einer katholischen Kirchengemeinde in Berlin in der Sportredaktion der dpa. Anfang des Jahrtausends wechselte er zur Netzeitung. Seine Spezialgebiete waren die Fußball-Nationalelf sowie der Wintersport. Ab 2004 kam das Autoressort hinzu, ehe er 2006 die Autogazette mitgründete. Seit 2018 ist er als freier Journalist unterwegs.

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