Große tote Winkel bei modernen Wagen

Nach hinten und zur Seite ist die Sicht bei neuen Fahrzeugen schlechter als bei den Vorgänger-Generationen, hat der ADAC ermittelt. Unter anderem deshalb, weil die Fahrer nicht gesehen werden wollen.

Von Felix Rehwald

Schulterblick beim Abbiegen und beim rückwärts Rangieren umdrehen - jeder Fahrschüler bekommt diese Grundregeln des Autofahrens beigebracht. Das ist auch sinnvoll, weil sich dadurch beispielsweise «Tote-Winkel»-Unfälle an Kreuzungen und Rempler beim Einparken vermeiden lassen. Doch in der Fahrpraxis helfen diese Verhaltensweisen oft nur bedingt weiter - zumindest dann, wenn die Fahrer in einem modernen Fahrzeug sitzen. Denn neue Automodelle werden immer unübersichtlicher, klagen Verkehrsexperten.

Der ADAC in München hat ermittelt, dass sich die Rundumsicht bei neuen Fahrzeugen im Vergleich zu älteren Modellen deutlich verschlechtert hat. Fast alle untersuchten Neuwagen schnitten in Tests in diesem Punkt schlechter ab als das Vergleichsfahrzeug, ein BMW 2002 mit Baujahr 1973. Die ADAC-Experten bemängeln vor allem immer breiter konstruierte A-, B- und C-Säulen der Karosserie, höher gezogene Heckpartien und schräger gestellte Windschutzscheiben, die die Sicht aus dem Fahrzeug heraus mitunter erheblich beeinträchtigen. Mitten im Blickfeld stehen zudem oft die hinteren Kopfstützen.

Ganzer Smart wird unsichtbar

Für den Rundumsicht-Check wertete der ADAC 360-Grad-Panoramafotos aus, die aus der Position des Fahrers gemacht wurden. Darin wurden sämtliche sichtrelevanten Konturen des Innenraums erfasst. Ebenfalls berücksichtigt wurden die Spiegelflächen sowie die toten Winkel der Karosserie. Bewertet wurde die Sicht jeweils in den unfallträchtigen Verkehrssituationen Spurwechsel, Abbiegen und Einparken.

Durch die Heckscheibe des alten BMW ist der Kinderwagen klar zu erkennen. Foto: dpa

«Die Gefahr, beim Abbiegen, Spurwechsel oder Einparken Fahrzeuge oder Fußgänger zu übersehen, ist deutlich gestiegen», lautet das Fazit der Tester. Vom ADAC nachgestellte Szenen verdeutlichen das Risiko: So wird bei einer Oberklasse-Limousine ein nebenher fahrender Radfahrer von der B-Säule verdeckt. Beim Blick nach hinten aus einem Kompaktmodell verschwindet ein Kinderwagen, den ein Fußgänger schiebt, im toten Winkel von Karosserie und Kopfstützen. Bei einem weiteren Kleinwagen schluckt die A-Säule sogar einen ganzen Smart.

Die Sichtproblematik neuer Fahrzeuge ist auch beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) in Bonn bekannt. DVR-Technikexperte Welf Stankowitz führt sie unter anderem auf den verbesserten Insassenschutz zurück. So gerieten die Säulen oft so massiv, weil die Konstrukteure die Karosserie besonders crashsicher machen wollen. Das sei zwar einerseits zu begrüßen, weil das Auto dann für die Insassen sicherer wird, so Stankowitz. «Ich halte es aber für bedenklich, wenn die Hersteller auf der anderen Seite die Sicht verschlechtern.»

«Trend, sich zu verstecken»

Auch ADAC-Sprecher Jochen Oesterle weist darauf hin, dass die Sicht nicht zwangsläufig unter der Crashsicherheit leiden muss: «Insassenschutz und Rundumsicht müssen kein Widerspruch sein - das zeigen die positiven Beispiele im Test.» So hätten die Testsieger auch im Crashtest gut abgeschnitten. Oft erzielten auch Maßnahmen, die die Karosseriekonstruktion gar nicht berühren, eine Verbesserung der Sicht - etwa bei Bedarf versenkbare hintere Kopfstützen.

Schmale Fensterlinie: Das Design des Neuwagens wirkt elegant, das Sichtfeld ist jedoch eingeschränkt Foto: dpa

Tatsächlich beeinflussen noch ganz andere Faktoren die Rundumsicht moderner Autos. DVR-Experte Stankowitz nennt das Karosseriedesign, das im Automobilbau immer wichtiger wird. Und hier wirke sich der gegenwärtige Trend, im Auto nicht gesehen werden zu wollen, besonders nachteilig aus, so Stefan Heiliger, freiberuflicher Designer aus Frankfurt/Main: «Es gibt den Trend, sich im Auto zu verstecken», sagt der ehemalige Automobildesigner und verweist auf hoch gezogene Heckpartien, hohe Gürtellinien und betont schmale Seitenscheiben.

Allerdings sei die Annahme falsch, im Fahrzeugbau hätte sich heute alles dem Design unterzuordnen. Vielmehr beeinflussten viele Faktoren zusammen die Gesamtkonstruktion. Beispielsweise wirke sich ein hoher Kofferraum, der beim Einparken stört, positiv auf den Luftwiderstand aus. «Die Rundumsicht ist dabei zurzeit etwas in den Hintergrund getreten», sagt Heiliger.

Konsequenzen trägt der Fahrer

Die Konsequenzen, die sich aus eingeschränkten Sichtbedingungen ergeben, tragen jedoch die Autofahrer. Sie können sich Welf Stankowitz zufolge nicht auf die Hersteller berufen, wenn sie beim Rangieren einen Radfahrer oder ein anderes Fahrzeug rammen. «Der Fahrer hat beim rückwärts Rangieren die volle Verantwortung - egal, ob die Sicht durch die Konstruktion oder Zuladung eingeschränkt ist», sagt der DVR-Experte. «Gegebenenfalls muss er sich einweisen lassen.»

Hilfreich bei unübersichtlichen Vans können laut Stankowitz «Linsen»-Folien zum Aufkleben auf die Heckscheibe sein. Sie vergrößern das Sichtfeld und Autofahrer könnten damit zumindest erkennen, wenn hinten etwas im Weg ist. ADAC-Sprecher Jochen Oesterle empfiehlt Autokäufern, bei der Probefahrt darauf zu achten, ob sie in dem Fahrzeug beim Einparken genug sehen. Er sieht vor allem die Hersteller in der Pflicht, einen besseren Kompromiss aus stabiler Fahrgastzelle, komfortablem Innenraum und einer guten Rundumsicht zu finden. Auch laut Welf Stankowitz sind Autofahrer auf freiwilliges Entgegenkommen der Hersteller angewiesen. Eine Mindest-Sichtfläche nach hinten sei in den entsprechenden Normen nicht definiert.

Wirft man einen Blick in die Ausstattungsstatistik, könnte man argwöhnen, die Unübersichtlichkeit ihrer Autos kommt den Herstellern ganz gelegen. So lassen sich zwar manche Autos ohne Einparkhilfe und Rückfahrkamera nicht mehr vernünftig rangieren. Nach Angaben des Branchenexperten Nick Margetts aus Limburg rüsten die Hersteller jedoch nur 11,1 Prozent der zurzeit 5579 auf dem deutschen Markt erhältlichen Fahrzeuge serienmäßig mit Parksensoren aus. Für 65 Prozent der Modelle sind sie nur gegen Aufpreis erhältlich: «Wenn der Kunde die Unübersichtlichkeit nicht haben möchte, kann er zahlen.»

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